Völlig unerwartet geraten die Geschwister Merrick und Lorraine in die Intrigen und Ränkespiele um den Thron von Ebron. Für alle Fans von heroischen Fantasyromanen a lá George R.R. Martin und David Eddings
»Was ist mit Quinby?«
»Tot. Aufgebahrt in der großen Halle.« Ohne auf Jareds entsetzten Aufschrei zu achten, verbeugte er sich tief: »Ihr seid der neue Thronfolger, Majestät.« 


Leseprobe

 
Prolog

Königreich Ebron, Fahrendenlager der Stadt Nakal, Frühjahr 3686

»Papaaaaa? Erzählst du uns eine Geschichte?« Lorraine sah ihren Stiefvater aus großen Augen an.
»Och nö.« Stöhnend trat ihr Stiefbruder Merrick gegen das schmale Bett im Schlafraum ihres Familienwagens. »Du willst jedes Mal Geschichten über Prinzessinnen hören.«
»Gar nicht wahr.«
»Wohl wahr.« Merrick versetzte ihr einen leichten Schlag gegen den Oberarm, was Lorraine sofort dazu veranlasste, die Fäuste zu ballen, um auf ihn loszugehen.
»Ruhig, ihr zwei.« Die tiefe Stimme von Antonius Sparks unterbrach den beginnenden Kampf der Kinder. »Merrick, man schubst keine Dame.«
»Ha!« Triumphierend hob Lorraine eine Hand in die Luft.
»Und was dich angeht, junges Fräulein: Eine Dame beginnt keine Prügelei.« Das quittierte Merrick mit einem selbstzufriedenen Grinsen, während er seiner Stiefschwester demonstrativ die Zunge herausstreckte.
Antonius seufzte. »Beim Großen Lord Dearus. Was soll aus euch beiden eines Tages werden? Legt euch hin, es ist längst Schlafenszeit.« Gehorsam krabbelten die Kinder unter die gemeinsame Decke. »Ich werde die Geschichte von der Erschaffung der Welt durch den Großen Lord Dearus und die Sanfte Lady Naëlla erzählen.«
Strahlende Begeisterung bei Lorraine und ein theatralisches Stöhnen von Merrick waren die Antwort.
»Nicht schon wieder.« Er verzog das Gesicht. »Warum kannst du dir zur Abwechslung nicht mal eine spannende Geschichte ausdenken? Über feuerspeiende Ungeheuer und einen Helden, der sie allein mit seiner Tapferkeit besiegt und …«
»Weil wir Barden sind«, stoppte Antonius den Wortschwall seines Sohnes. »Wir denken uns keine Geschichten aus, denn wir sind das Gedächtnis der Zivilisation. Wir überliefern und bewahren das, was gewesen ist, sodass zukünftige Generationen davon lernen können. Ich gebe das Wissen über die alten Zeiten an dich weiter, damit du es eines Tages weitertragen kannst. Also sei jetzt still, und hör gut zu.«
»Ja, Vater.« Ohne weitere Widerworte kuschelte sich Merrick unter der Decke an Lorraine und lauschte der dunklen und klangvollen Stimme seines Vaters.
»Am Anfang erschufen die Götter die Welt. Am Tage wachte der Große Lord Dearus, Herr über die Sonne und das Licht, und des Nachts die Sanfte Lady Naëlla, Herrin über den Mond und die Dunkelheit. Und auf dem Angesicht der Erde wandelten die Alten. Sie hatten alles, was das Herz begehrt, und beherrschten jede erdenkliche Art von Magie. Sie waren mächtiger, als ihr es euch vorstellen könnt, und wähnten sich ob dieser Macht den Göttern gleich. Aufgrund ihrer Hybris und ihrer Habgier lebten sie in immerwährendem Krieg. Die verschiedenen Länder bekämpften sich ohne Unterlass, Städte verstrickten sich in nicht enden wollende Fehden, ja sogar Brüder kämpften gegen ihre Schwestern. Es war ein wahrer Jammer.« Antonius warf seinen Kindern einen bedeutungsvollen Blick zu, den diese gekonnt ignorierten. Mit einem tiefen Seufzer fuhr er fort. »Durch ihr Streben nach Macht drohten sie mit den unvorstellbaren Kräften der alten Magie alles und jeden in den Untergang zu reißen. Städte, Flüsse, ganze Berge wurden mit einem Augenzwinkern erschaffen oder vernichtet. Die Trennung zwischen Tag und Nacht verschwand unter dem unbarmherzigen Ansturm der arkanen Gewalt. Der Große Lord Dearus und die Sanfte Lady Naëlla sahen das Chaos und weinten ob des Leids und der Zerstörung. Die Grenze zwischen ihren Reichen zerfiel und die beiden erblickten einander. Sie erkannten, dass sie nicht allein waren in ihrer Trauer, und entflammten in unstillbarer Leidenschaft zueinander. In diesem Augenblick wurden Licht und Dunkelheit eins, und die Liebenden brachten Ordnung in das Chaos. Sie vereinten die Menschen mit der Kraft der Liebe und heilten die Welt, indem sie die Magie in die vier Arkanen Künste aufteilten, die da sind …«
»Animation, Transmutation, Illumination und Ave… Avo…« Merrick geriet ins Stocken.
»Evokation«, half Lorraine aus. »Das ist die spannendste Kunst. Die beschwört Geister aus vergangener Zeit, um alten Dingen Leben einzuhauchen, und …«
»Ja, ihr seid sehr schlau.« Antonius fuhr seiner Tochter übers Haar. »Darf ich jetzt weitererzählen?«
Schuldbewusst biss sich Lorraine auf die Lippe und nickte. Ihr Vater mochte es nicht, wenn man ihn unterbrach, und sie wollte zu gern das Ende hören – obwohl sie es längst kannte.
»Vielen Dank.« Antonius holte tief Luft und setzte erneut an. »Und so entstand Æbrova, wie wir es kennen, in all seiner Schönheit. Die Alten waren vernichtet, und ihre Nachfahren wurden zu den Hütern der neuen Ordnung, in den vier Arkanen Gilden. Die Gilden sorgen dafür, dass das Wissen um die Arkanen Künste weitergegeben und niemals missbraucht wird. Solang diese Ordnung gewahrt bleibt und die Künste getrennt sind, wird es den Menschen gut ergehen. Der Große Lord Dearus selbst hat uns gelehrt, dass eine Vermischung von Übel ist. Er sprach: ›Niemals dürfen die Künste vermischt werden. Es kann nur Schlechtes daraus entstehen. Wehe denen, die sich der göttlichen Ordnung widersetzen, denn die Hölle wird über sie hereinbrechen.‹«
Er sah zu Merrick und Lorraine, die nickten, diesmal jedoch schwiegen. In ernstem Ton fuhr er fort: »Doch der Große Lord und die Sanfte Lady bezahlten bitterlich für die Rettung der Welt. Ihre Wege trennten sich auf ewig. Tag und Nacht waren nicht länger eins, und so mussten sie auseinandergehen. Körperlich voneinander entfernt, aber im Geist vereint, herrscht der Große Lord Dearus über den Tag und die Sanfte Lady Naëlla über die Nacht. Nur in den wenigen Minuten des Zwielichtes begegnen sie sich und entbrennen jeden Tag aufs Neue in ewiger Liebe.«
»Wenn ich mal groß bin, gehe ich zu den Gilden«, verkündete Lorraine im Brustton der Überzeugung. »Ich werde Meisterin der Animation und der Evokation.«
»Hast du nicht zugehört?« Merrick verdrehte die Augen. »Du kannst nur bei einer Gilde sein, weil eine Vermischung verboten ist. Außerdem hat Tino mir erzählt, dass wir Fahrenden keine Magie ausüben dürfen, also können wir auch keiner Gilde beitreten.«
»Mama sagt, ich kann werden, was ich will, wenn ich mich nur genug anstrenge.« Kämpferisch streckte die Kleine das Kinn vor. »Ich werde zuerst Prinzessin, dann ändere ich das Gesetz und lerne alle Arkanen Künste. Wirst schon sehen!«

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Geschätzter Kollege,

mir ist die Ungeheuerlichkeit meines Anliegens bewusst, aber ich musste die Chance ergreifen, mit Euch in Kontakt zu treten. 
Durch einen glücklichen Zufall durfte ich letzte Woche Zeuge eines bemerkenswerten Zwischenfalls werden. Ich besuchte – unangemeldet, wie ich zu meiner Schande gestehen muss – einen Freund. 
Im Eifer einer neuen magischen Entdeckung und beseelt von dem Wunsch, diese mit jemandem zu teilen, vergaß ich jegliche Höflichkeit. Ohne mich groß mit Formalitäten aufzuhalten, betrat ich sein Heim. 
Ich erzähle Euch dies, um klarzustellen, dass jenen Freund nicht die geringste Schuld an den folgenden Ereignissen trifft. 
Beim Betreten des Raums sah ich mich mit einem Wesen konfrontiert, welches mit irrwitziger Geschwindigkeit hin- und herschwirrte. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als kleiner Vogel, der wild mit den Flügeln schlug. Also wollte ich loslaufen, um das arme Tier einzufangen, doch es traf meinen Kopf und geriet ins Trudeln. 
Ich fing es auf, und meine eigene Entdeckung verblasste vor dem, was sich mir da eröffnete. 
Ein Meisterwerk, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Offensichtlich ist die Metallhülle so dünn geschmiedet, dass das Tier leicht genug ist, um zu fliegen. Dazu die neuartige Flügelmembran, die diese realistischen, vogelartigen Flatterbewegungen ermöglicht. Das ist äußerst spektakulär und wäre an sich schon eine Revolution auf dem Gebiet der Animationsmagie. 
Trotzdem wäre der Vogel nur ein, zugegebenermaßen fantastisches, Spielzeug, das geradeaus flattert, wäre da nicht die Tatsache, dass in ihm auch noch ein erweckter Seelenkern steckt. 
Der simple Geist aus diesem Kern hat Kontrolle über die Bewegung und kann mithilfe eines arkanen Fokus gelenkt werden. Eine perfekte Symbiose aus Evokation und Animation, wie es sie seit den legendären Golems der Alten nicht mehr gab. Aber was erzähle ich Euch das, handelt es sich doch um Euer Werk. 
Bedauerlicherweise muss ich gestehen, dass Eure Kreatur den Zusammenstoß nicht unbeschadet überstanden hat. Wie es der Zufall so will, bewegen sich meine Interessen glücklicherweise auf ähnlichem Gebiet. Ich sehe großes Potenzial in Eurer Kreation und brenne darauf, mich mit Euch auszutauschen bezüglich der verwendeten Materialien und Rituale. Könnt ihr mir beibringen, wie ihr dem Geist ermöglicht habt, Kontrolle über die physische Animation zu erlangen? Im Gegenzug könnte ich Euch dabei unterstützen, Euren Golem mit einem höheren Geist auszustatten. Wäre es nicht fantastisch, wenn Euer Metallvogel in der Lage wäre, Hindernisse eigenständig zu erkennen und diesen auszuweichen? 
Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Kontaktaufnahme ein großes Risiko eingehe, und ich versichere Euch, dass unser gemeinsamer Freund Eure Identität mir gegenüber nicht preisgegeben hat. Auch meine wird er wahren und lediglich als Mittelsmann fungieren. Gleichzeitig ist er meine ehrliche Versicherung Euch gegenüber, dass ich kein Spion der Gilden bin. Ich bin nur ein Mann der Magie, der die Gesetze der Gilden liberal auslegt und seine eigene Vorstellung zur Trennung der Künste hat. 
Zum Beweis meiner Verbundenheit übersende ich Euch Skizzen von Änderungen, die meiner bescheidenen Meinung nach notwendig wären, um einen höheren Geist in einen Golem wie den Euren zu integrieren. Natürlich benötigt man dafür einen passenden Seelenkern sowie fortgeschrittene Erweckungsrituale nebst den passenden Ingredienzien. Euer Einverständnis vorausgesetzt, würde ich mich darum kümmern, zu beschaffen, was wir brauchen. Es kann allerdings eine Weile dauern. 
 
In Hoffnung auf eine für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit verbleibe ich Hochachtungsvoll 
Euer ergebener Freund

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Kapitel 1 
Königreich Ebron, Ostil, Herbst 3708 
 
»Jared.« Wie durch Watte drangen die Worte an sein Ohr. Er hasste es, in diesem Zustand aufzuwachen.
In der Hoffnung, der Störenfried würde verschwinden, zog er die Decke weiter über den Kopf.
Die Stimme verschwand nicht. Stattdessen steigerte sie sich zu einer Lautstärke, die tausend kleine Glassplitter hinter seiner Stirn explodieren ließ. Jemand zog die Decke weg, und gleißend helles Sonnenlicht fiel ihm aufs Gesicht.
»Steh auf. Es ist beinahe Mittag.«
Und?
Erneut griff er nach der Decke, doch seine Hand ging ins Leere. Stöhnend versteckte er sich unter dem Kissen.
»Du bist erbärmlich, Sohn.«
Dann bin ich eben erbärmlich, wenn nur … Er hielt in seinen Überlegungen inne. Sohn?
Blitzschnell setzte er sich auf und wünschte sofort, er hätte es nicht getan. Die Welt kippte, ihm wurde übel, und er ließ sich zurück in die Kissen fallen.
»Trink das.« Sein Vater träufelte ihm etwas in den Mund.
Jared schluckte und erkannte den bitteren Geschmack von Matrosentrost. Eine nützliche Pflanze. Sie vertrieb die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums innerhalb kürzester Zeit. Leider führte sie für mehrere Tage zu Impotenz. Es sah seinem Vater ähnlich, ihm dieses Gebräu zu verabreichen.
Der Matrosentrost zeigte bereits den gewünschten Erfolg. Jareds Kopfschmerz verschwand, sein Magen beruhigte sich, und das Zimmer hörte auf, sich zu drehen.
Vorsichtig brachte er sich wieder in eine sitzende Position und fixierte seinen ungebetenen Gast. »Welchem Umstand verdanke ich diesen Besuch und die fürsorgliche Behandlung?«
Von seinem Vater kam ein verächtliches Schnauben. »Glaube mir, wenn die Angelegenheit weniger wichtig wäre, hätte ich dich den Rest des Tages leiden lassen.«
Jared wollte anmerken, dass er bis zu dem Weckversuch keineswegs gelitten hatte, ließ es aber bleiben. Ein Streit war das Letzte, was er brauchte. Betont lässig verließ er das Bett und durchquerte das große Zimmer Richtung Bad. »Was ist passiert?«
»Zieh dich an. So viel Zeit sollte uns bleiben.«
Jared runzelte die Stirn und schloss die Tür. Schnell ging er die Ereignisse des letzten Abends durch. Hatte er sich so danebenbenommen? Nein, alles wie immer.
Mit einem leicht ironischen Zug um die Lippen betrachtete er sein Spiegelbild. Dank des Matrosentrosts sah er aus wie das blühende Leben.
Baden würde zu lange dauern, also spritzte er sich ein wenig Wasser ins Gesicht und auf das kurz geschnittene Haar, wusch sich schnell, zog einen Morgenmantel über und putzte sich die Zähne. Mit dem Dreitagebart würde sein Vater leben müssen.
Diesmal war sein Lächeln im Spiegel echt. Wenn ihm die Folgen seiner Eskapaden erspart blieben, sollte er das nutzen. Eigentlich hatte er den Tag für verloren gehalten. Jetzt war es nicht einmal Mittag, und er hatte keinerlei Verpflichtungen.
Schauen wir mal, was so wichtig ist, dass mein Vater sich herbemüht.
Mit hoffentlich neutralem Gesichtsausdruck betrat er sein Zimmer. Die dicken Teppiche schluckten jeden Schritt. Sie waren nicht der einzige Luxus. Zarte Seidentapeten in hellem Gelb zierten die hohen Wände. In einer Ecke stand eine mit Seide bezogene Sitzgruppe, in der es sich sein Vater bequem gemacht hatte. Das dezente Grün von Gardinen und Bettwäsche passte perfekt zur übrigen Einrichtung. Neben der Sitzgruppe und dem riesigen Himmelbett bestand diese aus einem kleinen Sekretär, einem großen Spiegel und einer gut bestückten Hausbar. Ein Ofen, der sich harmonisch ins Gesamtbild einfügte, erwärmte das Zimmer. Nicht einmal der Regen, der beharrlich an die großen Scheiben klopfte, konnte der Behaglichkeit des Raums Abbruch tun.
Die penible Ordnung war nicht Jareds Verdienst. Einer der Vorteile seines Standes: Er musste niemals aufräumen, dafür gab es Servitoren. Er warf einen Blick auf seinen Vater. Rupert, der achte Herzog von Norris, saß in einem Sessel und sah ihn unverwandt an.
Jared ging zu ihm hinüber und entdeckte zwei dampfende Kaffeetassen auf dem kleinen Tisch.
»Was ist so wichtig, Vater?«
»Setz dich.«
Er ignorierte die Aufforderung und nahm sich eine der Tassen.
»Dann eben nicht. Du warst gestern Abend mit Prinz Quinby zusammen, ist das korrekt?«
»Ja.« In Jareds Innerem klingelten sämtliche Alarmglocken.
»Kannst du mir genau berichten, wie der Abend verlief?«
War das eine Fangfrage? Bedeutete der Auftritt seines Vaters hier nicht, dass er wusste, was er gestern Abend getrieben hatte? »Soll ich vor oder nach dem langweiligen Empfang des gesuanischen Botschafters beginnen?« Er bemühte sich, seine Stimme betont unbeteiligt klingen zu lassen. Am Hof war weithin bekannt, womit er und Quinby ihre gemeinsamen Abende verbrachten.
»Ab eurem Verschwinden von dort reicht völlig. Euer Benehmen vorher habe ich leider miterleben dürfen.«
Jared lächelte in sich hinein und setzte sich jetzt doch. »Quinby kam gegen halb elf zu mir und fragte, ob ich ihn in die Stadt begleite. Zuerst lehnte ich ab.«
»Ach?«
»Ja. Wie dir sicher aufgefallen ist, war ich zu dem Zeitpunkt bereits hoffnungslos betrunken. Ein Bordellbesuch wäre also verschwendet gewesen, und mehr Alkohol hätte nur zu dem Ergebnis geführt, das du eben gesehen hast. Das wollte ich vermeiden.«
Wie erwartet schnaubte sein Vater. »Warum bist du dann mitgegangen?«
Vorsichtig stellte Jared die Tasse zurück auf den Tisch und zuckte mit den Schultern. »Er sagte, wenn ich nicht mitkäme, würde er sich allein auf den Weg machen. Sollte ich den Thronfolger von Ebron in seinem Zustand ohne Begleitung gehen lassen? Er war noch betrunkener als ich.«
»Du hättest ihn davon abhalten können.«
»Quinby von etwas abhalten? Wie denn?« Mit einer wegwerfenden Handbewegung beantwortete er sich die Frage selbst. »Du hättest ihn in sein Zimmer eingesperrt, bis er ausgenüchtert wäre.«
Diesen Kommentar quittierte sein alter Herr mit einem kühlen Blick.
»Ich bin aber nicht du, Vater. Ich habe beschlossen, ihn zu begleiten.« Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Und dann?«
»Wir waren in ein oder zwei Schenken, haben getrunken, und Quinby ist am Ende mit einem Mädchen auf ihr Zimmer.«
»Du auch?« Weit vorgelehnt musterte sein Vater ihn so intensiv, dass Jared schluckte.
»Ich bin zum Schloss zurückgegangen.« Was sollte diese Befragung?
»Eher getorkelt. Die Wachen sagen, dass du am Fuß des Schlosshügels gefallen bist. Sobald klar wurde, dass du es nicht allein schaffst, haben sie dich eingesammelt und ins Bett getragen.«
»Wenn du das weißt, warum fragst du?« Jared versuchte sich an einem einnehmenden Lächeln.
»Weil ich aus deinem Mund hören wollte, wann du Quinby das letzte Mal gesehen hast.«
Das Lächeln gefror auf seinem Gesicht. Irgendetwas stimmte nicht. »Was ist mit Quinby?«
»Diese Frage ist wichtig: Bist du sicher, dass Quinby dich nicht begleitet hat?«
»Bin ich.«
»Da ist keine Erinnerungslücke? Er könnte nicht doch bei dir gewesen sein? Du warst betrunken …«
»Nein«, fuhr Jared ihm ins Wort. »Ich war allein. Was ist mit Quinby?«
»Weißt du, welches Bordell es war und wann genau du es verlassen hast?«
»Wir waren im Roten Kranich.« Die Worte kamen automatisch. »Die Glocke schlug, es war zwei Uhr. Wie gesagt, Quinby verschwand mit einer Rothaarigen, Karina oder so ähnlich, und ich bin gegangen.«
»Waren noch andere Gäste da? Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?«
»Ja, das …« Jared hielt inne. »Was ist mit Quinby?«
Sein Vater seufzte und erhob sich. »Tot. Aufgebahrt in der großen Halle.« Ohne auf Jareds entsetzten Aufschrei zu achten, verbeugte er sich tief. »Ihr seid der neue Thronfolger, Majestät.«

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Geschätzter  V.,

mit großem Interesse las ich Euren Brief und muss ein Geständnis ablegen: Ich habe unserem gemeinsamen Freund den Vogel mit dem Hintergedanken gegeben, dass Ihr ihn seht. Die Tatsache, wie gut Ihr erfasst habt, was es damit auf sich hat, macht mich sicher, dass Ihr der seid, für den ich Euch halte. 
Ich denke, es ist jetzt an mir, die Integrität unseres Freundes zu verteidigen. Er hat kein Wort über Eure Bekanntschaft verloren. Euer Ruf eilt Euch voraus, und ich hegte die Hoffnung, dass Ihr in Verbindung stehen könntet. 
Wenn ich mir Euren Bericht der Ereignisse durchlese, glaube ich, dass Ihr mein kleines Spielzeug nicht zufällig zu Gesicht bekommen habt. 
Eurem geschulten Auge sind die verarbeiteten Artefaktbestandteile sicher nicht entgangen. Neben der offensichtlichen Animationsmagie war eine ganze Reihe an Evokationsritualen notwendig, um so weit zu kommen. Ich war stolz auf meine bisherigen Erfolge, denn die Beseelung durch einen höheren Geist schien ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Eure beigelegten Skizzen haben mir die Augen geöffnet. Das Ausmaß an Möglichkeiten, die sich damit eröffnen, ist schier grenzenlos. 
Mir ist bewusst, dass die Existenz des Vogels in seiner jetzigen Form ein großes Risiko darstellt. Euer Ruf, ebenso wie Eure Antwort und die Versicherung unseres Freundes, stimmen mich allerdings zuversichtlich, dass ich auf Eure Verschwiegenheit zählen kann. 
Über einen weiteren Austausch wäre ich hocherfreut. 
 
In fiebriger Erwartung einer Antwort
L.


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Kapitel 2 
Kaiserreich Celeste, Chimere, zur selben Zeit 
 
»Merrick.« Lorraine steckte den Kopf durch die Tür und schnaubte. Es war bereits Mittag, und er lag nach wie vor im Bett. »Merrick, bist du da?«
Ein eindeutig weibliches Kichern drang aus der Ecke, in der Merricks Bett stand.
Was hatte sie anderes erwartet? »Schick sie weg. Ich muss mit dir reden.«
Ein erneutes Kichern und dann Merricks Antwort: »Hat das nicht Zeit? Wie du hörst, bin ich beschäftigt.«
»Hat es nicht.« Ohne ein weiteres Wort durchquerte Lorraine den Raum und öffnete die Fensterläden. Was sich im Licht der Vormittagssonne offenbarte, war schlimmer als vermutet. Die Standardbehausungen, die den Fahrenden überall in Æbrova zur Verfügung gestellt wurden, waren nie sonderlich luxuriös. Diese hier gehörte in die unterste Kategorie. Triste Wände aus Stroh und Lehm, in der einen Ecke ein Bett, in dem sich eine Frau an Merrick schmiegte und sich dabei nicht einmal die Mühe machte, ihre Nacktheit zu verbergen. Schnell sah Lorraine weg. Doch weder der klapprige Holztisch noch das schiefe Regal oder der türlose Kleiderschrank verbesserten die Situation. Die überall auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke verrieten deutlich, was sich hier in der vergangenen Nacht abgespielt hatte.
Seufzend bückte sich Lorraine, sammelte die Stücke ein, die nach weiblicher Kleidung aussahen, und warf den Stapel schwungvoll aufs Bett. »Wenn ich bitten darf.«
Immer noch kichernd stand die Frau auf. Splitternackt. Provozierend langsam zog sie ihr dünnes Hemdchen über.
»Weißt du was?« Lorraine raffte die Kleider vom Bett. »Ich denke, du machst das besser draußen.« Sie trat ans offene Fenster und warf das Bündel hinaus.
»Aber …«, protestierte die Frau. »Merrick, sie kann doch nicht …«
»Lorraine, bitte, das ist …«
»Es ist wichtig.« Sie sah ihren Bruder eindringlich an und hoffte, dass er verstand, wie wenig es ihr gefiel, sich mit seinen Gespielinnen herumschlagen zu müssen. »Sag ihr, sie soll gehen.«
In sein Schicksal ergeben hob Merrick die Hände. »Du hast sie gehört. Sie will, dass du gehst.« Er setzte sich im Bett auf, und die dünne Decke ließ seinen Oberkörper frei. Nicht zum ersten Mal dachte Lorraine, dass Merrick gut aussah. Sein eigentümliches Haar, das sich nicht für eine Farbe entscheiden konnte, und der drahtige, aber doch muskulöse Körperbau wirkte auf die meisten Frauen anziehend. Und das wusste er. Seine letzte Eroberung schien gerade allerdings wenig Spaß zu haben.
»Das ist doch …« Mit hochrotem Gesicht und nur in ihr dünnes Hemdchen gekleidet stürmte die Frau aus dem Zimmer. Lorraine hatte kein Mitleid mit ihr. Das Leben war hart, und die Frauen in den Etablissements, die Merrick bevorzugte, waren mit Sicherheit Schlimmeres gewohnt. Von Merrick bekamen sie Freundlichkeit und eine durchaus zärtliche Behandlung. Das entschuldigte Lorraines Vorgehensweise zwar nicht, doch sie wusste, dass diese Frauen bei der Wahl ihrer Partner nicht übermäßig bedächtig vorgingen. Mit Merrick hatten sie es vergleichsweise gut getroffen. Selbst mit ihr, die seine Liebschaften hinauswarf.
Wie so oft in den letzten Jahren verspürte sie einen leisen Schmerz, dass die Dinge so lagen. Sie waren keine leiblichen Geschwister, obwohl ein gemeinsames Elternpaar sie großgezogen hatte. Ihre starke Bindung von Kindheit an erlaubte eine Nähe, wie nur wenige Menschen sie teilten, war aber nie über geschwisterliche Liebe hinausgegangen. Auch wenn Merrick gern Scherze in eine andere Richtung machte. Vielleicht war auch der richtige Zeitpunkt dafür einfach nie gekommen.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Wenigstens führte er seine Frauen in diese schäbigen Unterkünfte und brachte sie nicht mit in den gemeinsamen Wagen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie während solcher Nächte grübelnd wach gelegen und auf seine Rückkehr gewartet hatte. Wenn er dann kam, umwehte ihn der Duft von Schnaps und billigem Parfum, was sie oft leise in ihr Kissen hatte weinen lassen. Sie waren beide noch sehr jung gewesen, und es hatte sie verletzt, dass er seine Zeit lieber mit anderen Frauen verbrachte.
Kopfschüttelnd schob sie den Gedanken beiseite. Das war Vergangenheit. Frauengeschichten hin oder her, sie liebte Merrick bedingungslos, denn er war ihr Bruder und nicht ihr Geliebter, und das würde wahrscheinlich immer so bleiben.
»Was ist so wichtig, Lorraine?« Seine Worte holten sie zurück in die Gegenwart. »Janette wird die Geschichte von ihrem Rauswurf herumerzählen, und es wird schwierig sein, für heute Abend ein Mädchen zu finden. Es sei denn, du willst …«
Lorraine schnaubte. »Träum weiter. Heute Abend werden wir nicht mehr hier sein. Wir reisen ab.«
»Ach, und warum?« Suchend beugte er sich aus dem Bett und griff nach seiner Wäsche auf dem Boden.
»Mutter hat geschrieben.« Wohl wissend, dass die nächsten Minuten schwer würden, setzte sie sich neben ihn.
»Und das ist der Grund, warum du endlich zu mir ins Bett kommst?« Blitzschnell schoss sein Arm nach vorn und schmiegte sich spielerisch um ihre Taille. Er versuchte abzulenken, weshalb sie sich nicht wehrte, sondern beruhigend ihre Hand auf seine legte. Sofort wurde er ernst. »Keine Gegenwehr? Was ist passiert?«
»Vater …«
»Was ist mit ihm?« Merrick versteifte sich und zog den Arm zurück.
»Er will sich mit uns treffen. Mit dir.«
»So, will er das? Und das kann er mir nicht selbst schreiben, weil …?«
»… du seine Briefe ungeöffnet verbrennst.«
Frostiges Schweigen war die Antwort.
»Er bittet darum, Merrick.«
»Der große Antonius bittet? Ist die Unterwelt zugefroren?« Sein gespieltes Lachen stach Lorraine ins Herz. »Wo soll das Treffen denn stattfinden?«
»Im Haupthaus in Ostil.« Lorraine nahm Merricks Hand und drückte sie. Ein kaum merkliches Rucken durchlief ihn, dann befreite er sich erneut aus ihrem Griff.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so schlecht um ihn steht. Das ist doch nur ein Trick, damit wir uns versöhnen. Steckst du dahinter oder Mutter?«
Diese Reaktion war so typisch Merrick, dass sie Lorraine fast ein Lächeln entlockte. »Ich habe damit nichts zu tun.« Geschäftig stand sie auf, sammelte Merricks wenige Habseligkeiten ein und packte sie in eine Tasche. »Der Brief kam gestern Abend. Mutter schreibt, er habe nicht mehr viel Zeit und ich solle dich nach Ostil schaffen.«
»Und was machst du, wenn ich mich weigere?«
Auch damit hatte sie gerechnet. »Merrick, das ist nicht der passende Zeitpunkt zum Scherzen. Vater liegt im Sterben und möchte dich ein letztes Mal sehen. Ist das nicht Grund genug, um hinzufahren?«
»Wir haben nur das Wort deiner Mutter.«
»Jetzt tu nicht so.« Merricks schwieriges Verhältnis zu seinem Vater in allen Ehren, aber mit dieser Unterstellung ging er zu weit. »Sie ist genauso deine Mutter wie meine. Genau wie Antonius unser Vater ist. Blut spielt dabei keine Rolle. Allein die Tatsache, dass sie im Haupthaus in Ostil sind, zeigt doch, dass es ernst ist. Er würde sich nur ins Sterbehaus bringen lassen, wenn er …«
»Ist ja gut, verdammt! Wir fahren.«
Merrick sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Hose und band sich das Haar im Nacken zusammen. Dann nahm er Lorraine die Tasche ab und stopfte den Rest seiner Kleidung hinein.
Wenn er so dastand, trotzig das Kinn nach vorn gereckt in dem Versuch, unbeteiligt auszusehen, war er das Ebenbild seines Vaters. Nicht nur, was das Aussehen betraf.
»Gefällt dir, was du siehst?« Merrick warf ihr ein Lächeln zu, das die meisten Frauen sicher dahinschmelzen ließ. Manche Dinge änderten sich nie.
»Du weißt, dass du nicht mein Typ bist? Ich stehe auf intelligente Männer.«
Merricks schlechte Laune schien verflogen, und er grinste. »Du verpasst was. Ich habe vor Jahren festgestellt, dass mangelnder Intellekt im Bett durchaus …«
»Erspar mir deine Weisheiten.« Sie verdrehte die Augen und wandte sich zur Tür. »Ich warte am Wagen auf dich.«
 
***
 
Theatralisch seufzend, legte sich Merrick eine Hand aufs Herz und blickte Lorraine nach. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, ließ er seine aufgesetzte Fröhlichkeit fallen. Ob der Tag kommen würde, an dem Lorraine ihn einmal zu oft mit einer anderen Frau im Bett fand und sich gänzlich von ihm abwandte? Lange hatte er sich gewünscht, sie wäre die Gefährtin an seiner Seite. Ob ihr je aufgefallen war, dass er nur Frauen in sein Bett holte, die völlig anders waren als sie? Nicht eine von ihnen besaß ihre dunklen Haare, die noch dunkleren Augen oder gar ihren herausragenden Intellekt. War es, weil er auf einen anderen Typ Frau stand, oder konnte nur keine den Vergleich mit ihr bestehen? Eine Frage, die er sich seit Jahren nicht beantworten konnte. Sei’s drum, es gab Wichtigeres.
Sein Vater lag im Sterben, und er wollte ihn nicht sehen. Aber er wusste auch, dass Lorraine so lange weitermachte, bis sie am Ende ihren Willen bekam. Wahrscheinlich hatte sie sogar recht mit ihrer Einschätzung, dass er dem alten Mann diesen Wunsch erfüllen sollte.
Er verschwendete keinen weiteren Blick an das schäbige Zimmer und trat auf den Flur. Hier sah es kaum besser aus und roch dazu noch schlecht. Nach gekochtem Kohl, menschlichen Ausdünstungen und Schlimmerem.
Auf der Straße wurde es nur wenig besser. Jetzt mischte sich zusätzlich der Geruch nach Fäkalien und Aas aus dem nahe liegenden Gerbereiviertel darunter. So betrachtet, war es ein Segen, dass sie Chimere, schimmerndes Kleinod und Hauptstadt des Kaiserreiches, hinter sich ließen, um ins Königreich Ebron aufzubrechen. Die Fachwerkhäuser links und rechts neben der Fahrendenunterkunft drängten sich dicht an dicht und ragten teilweise vier Stockwerke in die Höhe, sodass kaum Sonnenlicht auf das Kopfsteinpflaster fiel.
Er brauchte zwanzig Minuten, um das Fahrendenlager vor den Toren der Stadt zu erreichen. Dort wartete Lorraine im Wagen auf ihn. Es war ein typisches Fahrzeug, wie es Fahrende in ganz Æbrova bevorzugten: Vier mannshohe Räder trugen einen massiven, zweistöckigen Aufbau aus Holz. Im oberen Teil befanden sich in der Regel Schlafquartiere, während unten Wohn- und Arbeitsbereiche den Raum beanspruchten. Den Wagen hatten sie sich mit dem Verdienst aus ihrem ersten erfolgreichen Auftrag geleistet, und Lorraine hatte viel Zeit investiert, ihn auf ihre Bedürfnisse anzupassen. Es gab sogar eine kleine Werkstatt, die es ihr erlaubte, größere Reparaturen an ihrem Gefährt vorzunehmen, was wichtig war, da ihre Aufträge sie oft in abgelegene Gebiete führten. Außerdem hatte sie es geschafft, den magischen Animationsantrieb wieder instand zu setzen, was man an dem tiefen Brummen erkannte, welches er nach der Aktivierung von sich gab.
Er war stolz auf sie, auch wenn er es ihr gegenüber nie zugeben würde. Auch ohne formale Ausbildung bei den Gilden hatte sie es als Magierin weit gebracht.
Lorraine saß im Fahrersitz, begleitet von dem Summen der Magie, und wie so oft fragte er sich, warum Animationsmagie überhaupt Geräusche machen musste. Das Brummen sei unvermeidbar, hatte sie ihm versichert. Irgendetwas mit Vibrationen und Frequenzen. Doch er war nach wie vor der Meinung, dass es besser gehen musste. Wozu Magie, wenn Pferde dasselbe mit weniger Lärm erledigen konnten? Andererseits hatte der magisch betriebene Wagen auch seine Vorteile: Er brauchte weder Ruhe noch Futter und roch nicht nach Pferdeäpfeln. Dazu war er Lorraines Schatz, insofern verbot er sich ohnehin jede Kritik. Und besser konnte er es gewiss nicht, denn er war auf dem Gebiet der Magie vollkommen unbegabt.
»Bereit, dieses stinkende Loch zu verlassen?« Sie grinste und schob sich ihre Schirmmütze aus dem Gesicht.
»So bereit man sein kann. Auf nach Ebron.«

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Lieber  L.,

natürlich weckt dieser Vogel in mir den Wunsch nach mehr. Man könnte sich größere Tiere denken, affenähnliche Wesen oder gar menschlich anmutende Golems, wie sie die Alten einst schufen. 
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Wir sollten uns erst einmal auf die Perfektionierung des Vogels konzentrieren. 
Da die Membran an einem Flügel bedauerlicherweise eingerissen ist, zeigt er nicht mehr die gleiche Eleganz wie vorher. Meine Reparaturversuche scheiterten kläglich, ich verbeuge mich demutsvoll vor Eurer überlegenen Meisterschaft der Animationsmagie. 
Dafür komme ich mit den anderen Änderungen gut voran. Das Gildendogma, Geister könnten nur in unveränderten, statischen Artefakten der Alten wiedererweckt werden, ist offensichtlich unhaltbar. Wenn man Eure geniale neue Idee mit althergebrachten Evokationstechniken kombiniert, könnte man beliebige Geister in einen Seelenkern binden, diesen in einen anderen magischen Gegenstand transferieren und ihn dort wieder erwecken. Meine bisherigen Experimente in dieser Richtung sind äußerst vielversprechend. Zugegeben, es ist ein langwieriges Ritual, das ein hohes Maß an Wissen und Konzentration erfordert, aber trotz allem ist es, im Gegensatz zu dem, was die Gildenevokatoren behaupten, absolut machbar. 
Bevor Ihr jetzt in Bewunderungsrufe ausbrecht, sei gesagt, dass mitunter erhebliche Nebenwirkungen auftreten. Sind Geist und Zielartefakt inkompatibel, kann das zu unvorhersehbaren Konsequenzen führen. Beobachtet habe ich Beeinträchtigungen von Artefaktfunktion oder Intellekt bis hin zu aggressivem, wahnhaftem Verhalten. Daher ist mit äußerster Vorsicht vorzugehen. 
Zurück zum Vogel: Da er nur über begrenzten Platz für einen Seelenkern verfügt, scheiterten die ersten Versuche erwartungsgemäß. Nach diversen Anpassungen und Beschwörungen gelang es mir, einen passenden Geist zu finden. Seit er in den Vogel gebannt wurde, weicht dieser Hindernissen aus und begibt sich selbstständig in Ruheposition, wenn er keine Befehle erhält. Höhere Denkprozesse, wie zum Beispiel die Fähigkeit, Sprache zu verstehen, scheinen jedoch verloren. Ich befürchte, dass wir die maximale Kapazität für einen so kleinen Golem erreicht haben. 
Was haltet Ihr davon, einen größeren Vogel zu entwerfen? Sagen wir, mindestens doppelt so groß? 
Unser Freund, ich werde ihn einfachheitshalber Z. nennen, sagt, dass er neben den Briefen auch in der Lage sei, Gegenstände an Euch weiterzuleiten. Dies bringt mich auf eine Idee: 
Ich schicke Euch das beschädigte Tier mit den erweiterten evokatorischen Funktionen zurück. Ihr erschafft darauf basierend einen neuen, größeren Vogel, den Ihr mir zukommen lasst. Das sollte es mir ermöglichen, einen höheren Geist zu binden, ohne dass derselbe in Mitleidenschaft gezogen wird. Komplexere Befehle wären möglich, vielleicht sogar freie Kommunikation. 
Ich hoffe, damit euer Interesse geweckt zu haben. 
 
In freudiger Erwartung auf Eure Antwort 
V.

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Kapitel 3 
Königreich Ebron, Ostil, drei Wochen später 
 
In Ostil angekommen fuhren Merrick und Lorraine ihren Wagen in das örtliche Fahrendenlager. Es schmiegte sich an die östliche Stadtmauer, und augenblicklich stellte sich bei Lorraine ein Gefühl von Heimat ein. Solche Lager fanden sich in der Nähe aller größeren Städte Æbrovas und waren für sie das, was einem Zuhause am nächsten kam. Die Gemeinschaft der Fahrenden hielt zusammen, die Menschen halfen sich und passten aufeinander auf.
Trotzdem genossen sie keinen guten Ruf. Als Nomaden waren sie allerlei Vorurteilen ausgesetzt, man hielt sie allgemein für Diebe und Schmarotzer. Nichtsdestotrotz besuchte jedermann die Vorführungen der Schauspieltruppen, kaufte die bunten Röcke und Tücher, die fahrende Händler feilboten, oder fragte die Heilkundigen um Rat. Ebenso lauschten alle gespannt den Barden, wenn sie in den zahlreichen Schenken die alten Geschichten zum Besten gaben. Nur danach sollten sie möglichst schnell aus der Stadt verschwinden.
Den schlechtesten Ruf hatten Sucher wie Merrick und Lorraine. Sie waren es, die in den Ruinen der Alten nach Artefakten suchten, um sie an die Arkanen Gilden zu verkaufen. Wagemutige Männer und Frauen, die keine Gefahr scheuten, keinem Kampf aus dem Weg gingen und den Söhnen und Töchtern ehrbarer Bürger den Kopf verdrehten.
Sucher in der Stadt bedeuteten Ärger, so sagte man. Dennoch, oder gerade deswegen, war so mancher fasziniert und lauschte nur zu gern den fantastischen Geschichten über verlassene Ruinen und magische Fallen. So wie Merricks zahlreiche Gespielinnen. Seine Ausbildung zum Barden half ihm dabei, denn auch wenn die Geschwister ihren Lebensunterhalt als Sucher verdienten, hatte er doch ein echtes Talent zum Geschichtenerzählen.
Lorraine dagegen hielt wenig von Prahlerei und ständig wechselnden Liebschaften. Sicher hatte ihr das ein oder andere Mal ein Mann gefallen, und sie hatte das Bett mit ihm geteilt, doch im Vergleich zu Merrick war sie ein Waisenkind. Seufzend betrachtete sie das Lager.
Obwohl es erst Herbst war, standen über dreißig Wagen in vier Gassen auf dem weitläufigen, schlammigen Gelände. Im Winter waren es bis zu achtzig. So lange würden sie nicht bleiben. Sie verweilten meist nur ein paar Tage an einem Ort. Die Älteste begrüßte sie herzlich und wies ihnen einen Platz zu.
Sobald sie sich umgezogen hatten, brachen die Geschwister zum Sterbehaus der Fahrenden auf. Es lag innerhalb der Mauern, nur wenige Gehminuten vom Stadttor entfernt in einem eher bescheidenen Viertel von Ostil. Die Häuser links und rechts machten einen ärmlichen Eindruck, aber man konnte sehen, dass die Bewohner ihr Bestes gaben. Die Straßen waren sauber, genau wie die Fenster der alten, zweistöckigen Fachwerkhäuser. Wäscheleinen spannten sich in den Obergeschossen, und der Geruch nach frisch gewaschener Kleidung überlagerte alles andere.
Viele Frauen hier verdienten ihr Geld als Servitoren, meist indem sie das Waschen und Bügeln für wohlhabendere Familien in gehobeneren Stadtvierteln übernahmen.
Auch das Sterbehaus der Fahrenden hatte schon bessere Zeiten gesehen und stach dennoch deutlich hervor. Erbaut aus ursprünglich hellgrauem Stein, war dieser mit den Jahrzehnten nachgedunkelt und sah an einigen Stellen fleckig aus. Nichtsdestotrotz war es mit seinen beiden Giebeln und dem kleinen Türmchen in der Mitte ein beeindruckendes Gebäude. Merricks leichtes Zögern brachte Lorraine dazu, ihn hinter sich her ins Innere zu ziehen. Dort angekommen musterte sie ihn kritisch und griff nach seiner Krawatte.
»Jetzt hör auf, an mir herumzuziehen.« Er stieß ihren Arm zur Seite.
»Wenn du sie nicht ständig lockern würdest, müsste ich sie nicht jedes Mal richten.«
»Ist der ganze Aufwand nötig? Wir besuchen nicht den Großen Lord Dearus. Es ist nur mein Vater.«
»Genau. Du weißt, wie viel Wert er auf korrekte Kleidung legt.«
»Du hast gut reden. Du darfst ein Kleid tragen, in dem du umwerfend aussiehst.« Anerkennend glitt sein Blick über Lorraine. Er hatte keine Ahnung, wie sie sich in Korsett und mit den vielen Unterröcken fühlte. Sie trug am liebsten ihre Arbeitskleidung: ein schlichtes, einteiliges Kleid ohne Schnickschnack, kombiniert mit einem Werkzeuggürtel sowie einer Schürze, die genug Taschen hatte, um alles darin zu verstauen, was man eventuell brauchte.
»Ihr Frauen habt es gut, ihr müsst euch nicht so ein Folterinstrument um den Hals binden.« Merrick zog ungehalten den Knoten seiner Krawatte wieder etwas weiter auf.
»Richtig. Wir müssen uns dafür in ein Korsett aus Fischbein zwängen, das jeden Atemzug schwer und die meisten Bewegungen unmöglich macht. Das ist viel besser.« Sie schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass sich hinter Merricks Nörgelei die gleiche Unsicherheit verbarg, die auch sie erfasst hatte. Ihr Vater starb, sie wussten nicht, was sie erwartete, und fühlten sich irgendwie schuldig. Wie oft hatte Merrick ihm nach einer ihrer zahllosen Auseinandersetzungen lautstark den Tod an den Hals gewünscht? Jetzt, da der Zeitpunkt gekommen war, fürchtete er ihn. Eine natürliche Reaktion, die es für keinen von ihnen erleichterte, das Sterbehaus zu betreten. Um Merrick und auch sich selbst aufzumuntern, nahm Lorraine seine Hand und drückte sie. »Du schaffst das.«
Sein gequältes »Mmmh« klang wenig überzeugt.
Am Empfang begrüßte man sie kurz und wies ihnen auf Nachfrage den Weg zu Antonius’ Zimmer den Flur hinunter. Die weiß getünchten Wände und der triste graue Steinboden ließen jegliche Behaglichkeit vermissen. Das war also der Ort, an dem Fahrende ihre letzten Tage verbrachten, um sich von Verwandten und Freunden zu verabschieden. Hoffentlich sahen die Zimmer besser aus.
Merrick hatte angehalten, und sie standen vor einer einfachen, ebenfalls weißen Tür. Zweiundvierzig stand in Schwarz darauf geschrieben. Das Zimmer ihres Vaters. »Sollen wir?« Merrick sprach leise, ganz so, als hoffte er, Lorraine würde ihn dazu bringen, wieder zu gehen.
Den Gefallen konnte sie ihm nicht tun. Also nickte sie, straffte die Schultern, atmete einmal tief durch und klopfte.
»Ja, bitte?«, kam umgehend die Antwort einer eindeutig weiblichen Stimme.
Vorsichtig öffnete Lorraine die Tür und sah sich ihrer Mutter gegenüber.
»Lorraine!« Die Umarmung war kurz und herzlich. »Ist Merrick …«
In diesem Moment trat er ein, und ein Lächeln erschien auf dem Gesicht ihrer Mutter. »Lass dich ansehen, Junge.« Sie musterte ihren Stiefsohn von oben bis unten und nickte anerkennend. »Komm her.«
Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Die Spannungen zwischen Merrick und seinem Vater waren der Grund, dass sie auch ihre Mutter kaum noch zu Gesicht bekamen. Sie schrieben sich, aber das war nicht dasselbe.
Sie wirkte müde und abgespannt, was in Anbetracht der Umstände nicht verwunderlich war. Hätte ich mehr tun müssen, um eine Einigung herbeizuführen? Nein, das war nie eine Option. In der Auseinandersetzung zwischen ihrem Stiefvater und ihrem Stiefbruder hatte Lorraine sich vor langer Zeit auf Merricks Seite geschlagen.
Um sich von diesem Gedanken abzulenken, nahm Lorraine das Zimmer in Augenschein. Es war um einiges gemütlicher, als die Flure vermuten ließen. Mit den bunten Teppichen auf dem Boden und an den Wänden wirkte es beinahe heimelig. Die dunklen Möbel taten ihr Übriges. Lediglich an Tageslicht mangelte es, doch das wurde durch eine Laterne kompensiert. Sie spendete genug Licht, um sich in dem kleinen Wohnzimmer zurechtzufinden.
»Ist er …« Merrick brach ab, und Lorraine wandte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zu.
»Er ist wach und erwartet dich. Ich werde ihm sagen, dass du hier bist.« Ohne ein weiteres Wort ging ihre Mutter auf die gegenüberliegende Tür zu und verschwand dahinter.
»Du begleitest mich.« Merrick griff nach Lorraines Hand und umklammerte sie.
»Er will dich sehen.« Eine merkwürdige Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Sie gönnte ihrem Bruder diese Aussprache mit seinem Vater, und doch … Es versetzte ihr einen Stich, dass er nicht auch nach ihr gefragt hatte.
»O nein. Du hast darauf bestanden, dass wir herkommen. Wir machen das zusammen.«
Bevor Lorraine antworten konnte, öffnete sich die Tür, und ihre Mutter kam zurück. »Er ist jetzt bereit.«
Ohne Zögern zog Merrick Lorraine mit sich in das angrenzende Zimmer.
»Nein, er will nur …« Die Stimme ihrer Mutter verklang, und Merrick schloss die Tür mit einer schnellen Armbewegung hinter ihnen.
Atemlos versuchte Lorraine, in nahezu völliger Dunkelheit etwas zu erkennen. Nur eine einzige Öllampe spendete gerade genug Licht, um die Umrisse eines Bettes auszumachen. Merrick schien das nicht zu irritieren, denn er zog sie weiter, bis sie zusammen vor dem Bett standen. Hier reichte das Licht, um Antonius’ mächtige Gestalt zu sehen. Er lag halb aufgerichtet zwischen vielen Kissen und sah zu ihnen auf.
»Merrick.« Lorraine erschrak über seine Stimme, die nicht mehr die Stärke und Autorität von früher ausstrahlte.
»Vater.« Merricks stechender Blick und die steife Haltung zeigten eine Ablehnung, die Lorraine innerlich stöhnen ließ. Antonius war kein liebevoller Vater gewesen, aber das hatte er nicht verdient.
»Ich habe euch solche Intimitäten strengstens untersagt. Lass sie los, Merrick.«
Lorraines Mitleid verflog auf der Stelle. Es hatte sich nichts geändert.
»Die Zeiten, in denen wir Befehle von dir angenommen haben, sind vorbei, alter Mann.« Gar nichts. Die beiden gingen immer noch aufeinander los, sobald sie sich sahen.
Um keinen Streit zu provozieren, versuchte Lorraine, ihre Hand freizubekommen, doch Merrick ließ nicht los. Das fing ja gut an.
»Lorraine, geh zu deiner Mutter. Ich muss mit Merrick sprechen. Allein.« Für einen Augenblick kehrte die gewohnte Autorität in Antonius’ Stimme zurück.
»Sie bleibt.« Merricks Griff verstärkte sich noch einmal. »Du redest entweder mit uns beiden, oder es gibt kein Gespräch.«
Antonius presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, nickte dann aber. Das war neu. Es musste wirklich schlecht um ihn stehen. Der Antonius, den sie kannte, hätte niemals so schnell nachgegeben. »Danke, Vater.« Lorraine schenkte ihm ein kleines Lächeln.
»Du siehst mich trotz allem als deinen Vater an?« Ob er sich über diesen Umstand freute oder nicht, konnte Lorraine seinen gekrächzten Worten nicht entnehmen.
»Ich kannte keinen anderen.« Das entsprach der Wahrheit und ihren Gefühlen. Antonius war kein einfacher Mann und hatte es ihr niemals leicht gemacht. Seinen Erwartungen zu entsprechen, war nahezu unmöglich, was am Ende dazu geführt hatte, dass sie und Merrick gegangen waren, um ihr eigenes Leben zu führen, weit weg von den kritischen Blicken und den beißenden Kommentaren des Mannes, der sie großgezogen hatte.
Ihre Antwort quittierte Antonius mit einem Nicken. »Holt euch Stühle. Ich habe einiges zu sagen.«
Merrick ignorierte die Aufforderung zunächst und kam ihr erst nach, nachdem Lorraine ihm den Ellenbogen in die Seite gestoßen hatte. Endlich entließ er ihre Hand aus seinem Schraubstockgriff, holte zwei Stühle heran, und sie setzten sich.
»Wie ist es euch ergangen? Mich haben in den letzten Jahren nur spärliche Informationen über eure Unternehmungen erreicht.«
»Was soll das?« Merrick verschränkte die Arme. »Du hast mich doch nicht kommen lassen, um mit mir über unser Geschäft zu sprechen? Wir wissen beide, dass du unser Tun nicht billigst.«
»Ihr habt das frevelhafte Stehlen und Schmuggeln illegaler Gegenstände also nicht aufgegeben?« Die Verachtung in seiner Stimme traf Lorraine, doch mehr sorgte sie sich um Merrick.
Der versteifte sich wieder und streckte angriffslustig das Kinn nach vorn. »Du wirst es nie begreifen. Wir bestehlen niemanden, und magische Artefakte an die Gilden zu verkaufen, ist nicht illegal. Wir verkaufen auch Fundstücke an Händler, weil nicht jedes zwangsläufig gildenpflichtig ist. Wir sind beileibe nicht die ketzerischen Schwerverbrecher, die du aus uns machen willst.«
Lorraine biss sich auf die Zunge. Was Merrick sagte, war nicht gelogen. Er verschwieg allerdings, dass so manches Artefakt seinen Weg auf den weitaus lukrativeren Schwarzmarkt fand, woran sie nicht ganz unschuldig waren.
»Die Ruinen der Alten sind …«
»Ich diskutiere das nicht mit dir.« Merrick wollte aufstehen, und Lorraine stoppte ihn, indem sie ihre Hand auf sein Bein legte. Meist beruhigte ihn ihre Berührung. So auch heute. Langsam ließ er sich zurück auf den Stuhl fallen.
Antonius war jeder Bewegung mit den Augen gefolgt, und er wandte sich jetzt an seine Stieftochter: »Ihr beide seid doch nicht …«
»Nein«, antwortete sie schnell, ließ ihre Hand jedoch auf Merricks Bein liegen. »Sind wir nicht und werden wir auch nie sein.« Warum war ihm das so wichtig? Solange Lorraine denken konnte, war Antonius die enge Verbindung zwischen ihr und Merrick ein Dorn im Auge gewesen.
»Gut. Denn das wäre falsch.«
Merrick schnaubte, aber auf Antonius’ Gesicht zeigte sich Erleichterung.
»Das kannst du getrost uns überlassen.« Mit erneut verschränkten Armen blickte Merrick auf seinen Vater. »Was willst du?«
»Dir ein Angebot machen.«
»Ach ja?«
Unbehaglich rutschte Lorraine auf ihrem Stuhl hin und her. Sollte sie besser gehen? Zweifelnd blickte sie zu Merrick. »Wenn du möchtest, leiste ich Mutter Gesellschaft und …«
»Damit ich dir später jedes Detail erzählen muss? Nichts da, du bleibst.«
Laut und vernehmlich erklang ein Räuspern vom Bett, und die Geschwister wandten sich wieder ihrem Vater zu. »Ich habe vor ein paar Wochen einen alten Kontakt hier in der Hauptstadt aufleben lassen.«
»Du hast Kontakte in Ostil?« Merrick lachte trocken. »Solange ich mich erinnern kann, haben wir einen weiten Bogen um diese Stadt gemacht. Du wurdest nie müde, zu betonen, was für ein verkommener, wertloser Ort die Hauptstadt sei und wie wenig sich ein Besuch lohnen würde. Und auf einmal, wie aus dem Nichts, hat mein werter Herr Vater Kontakte hier? Wenn das keine Ironie ist.«
Konnte Merrick sich nicht ein Mal zurückhalten? Lorraines Blick glitt zu Antonius, und halb fürchtete sie einen seiner Wutausbrüche, doch er wirkte erstaunlich gelassen.
»Ich hatte meine Gründe für diese Ansicht. Und jetzt habe ich welche, sie noch einmal zu überdenken.«
»Besitzt du die Güte, uns diese Gründe mitzuteilen?«
»Ich sterbe.« Antonius’ Stimme zeigte nicht einen Hauch von Bitterkeit, was Lorraine mehr berührte, als es das Gegenteil gekonnt hätte. Er hatte den Tod akzeptiert. »Und …« Ein Hustenanfall unterbrach ihn.
Merrick schlug die Beine übereinander und säuberte in gespielter Langeweile seine Fingernägel. Seufzend eilte Lorraine ihrem Stiefvater zu Hilfe, doch der hob abwehrend die Hand. Es sollte ihr nichts ausmachen, doch seine Ablehnung traf sie. Warum dürstete es sie immer noch nach seiner Zuneigung? Sobald der Husten nachließ, sank er entkräftet in die Kissen zurück.
»Der bevorstehende Tod lässt einen vergangene Entscheidungen neu bewerten.« Antonius atmete mehrmals tief durch und sprach mit fester Stimme weiter. »Du hast die Ausbildung zum Barden mit Bravour beendet, Merrick. Du besitzt ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und dein Charisma könnte dir Türen öffnen.«
Augenscheinlich verblüfft ließ Merrick von seinen Nägeln ab und starrte seinen Vater mit offenem Mund an. Lorraine hingegen beugte sich gespannt nach vorn. Anerkennung vom großen Antonius bekam man wahrlich selten.
»Mein Lob überrascht dich?« Antonius musterte seinen Sohn aufmerksam.
»Du überschüttest Menschen nicht damit. Besonders mich nicht.«
»Ich verteile es, wenn es angebracht ist.« Belustigt zog Antonius einen Mundwinkel nach oben.
»Du hältst mich für talentiert?«
»Talentiert, ja. Aber deine Trinkerei und der Tabak haben deine Stimme verdorben. Außerdem hast du keinen Respekt vor Weisheit oder Traditionen. Dazu kommen deine Techtelmechtel mit Frauen, die dich von wichtigen Studien abgehalten haben, und deine Waghalsigkeit …«
»Alles beim Alten, da bin ich ja beruhigt.« Merricks Gelächter erfüllte den Raum. »Ich hatte schon befürchtet, die Krankheit könnte deinen Geist verwirrt haben.«
»Dennoch«, fuhr Antonius fort, Merricks Einwand ignorierend, »bist du genauso fähig wie die meisten anderen Barden. Und deshalb habe ich mich für dich eingesetzt.«
Jetzt wurde es interessant. Lorraine sah zu ihrem Bruder, der die Stirn runzelte.
»Dich für mich eingesetzt?«, wiederholte der vorsichtig. »Wo?«
»Am königlichen Hof. Ich habe dafür gesorgt, dass man dir dort eine Stellung anbietet.«
»Bitte?« Der Ausruf von Lorraine und Merrick erfolgte synchron. Sie wechselten einen ungläubigen Blick.
»Dir wird die Stelle eines Barden am Hof angeboten. Finde dich morgen früh bei Sonnenaufgang am Haupteingang des königlichen Schlosses ein, nenne deinen Namen und sag, dass du von Mr Aynsworth erwartet wirst. Merk dir den Namen.«
»Wozu? Ich will nicht an den Hof. Ich arbeite nicht als Barde.« Er warf in einer Geste der Verzweiflung die Arme in die Luft.
»Ich weiß, dass du die letzten Jahre nur wenig Energie auf dein eigentliches Handwerk verwendet hast.«
Das war eine deutliche Untertreibung. Merrick hatte die Ausbildung nur gezwungenermaßen zu Ende gebracht und seitdem keinen Tag als Barde gearbeitet. Oder geübt oder irgendetwas getan, was auch nur im Entferntesten mit Bardentum zu tun gehabt hätte. Außer Frauen mithilfe seiner Erzählkünste ins Bett zu locken vielleicht.
»Da liegst du verdammt richtig. Und ich habe auch in Zukunft nicht vor, diesem Schwachsinn eine einzige Sekunde meines Lebens zu widmen.« Er stand auf und drehte seinem Vater demonstrativ den Rücken zu.
Lorraine schüttelte missbilligend den Kopf. So ging das nicht. Mit einer ungeduldigen Geste forderte sie Merrick auf, sich wieder zu setzen, was er ablehnte. Lorraine wiederholte ihre stumme Aufforderung. Diesmal zeigte Merrick zwar eine grimmige Miene, ließ sich aber nieder, den Blick auf seinen Vater gerichtet.
»Ich hätte von Anfang an mit dir sprechen sollen, Lorraine. Wie ich sehe, gehorcht er dir nach wie vor.«
Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Die beiden nahmen sich nichts, wenn es darum ging, das Falsche zu sagen. »Du verwechselst Gehorsam mit Vertrauen, Vater.« Obwohl seine Worte sie verletzt hatten, versuchte sie die Wogen zu glätten.
»Tue ich das?« Kopfschüttelnd schürzte Antonius die Lippen.
»Was bezweckst du damit, alter Mann?« Merrick sah seinen Vater nach wie vor finster an, doch die Klippe war erst einmal umschifft. Er redete wieder. »Dir muss klar gewesen sein, dass ich das Angebot ablehnen würde.«
»Das habe ich erwartet, ja. Aber ich hoffe, dass du deine Meinung ändern wirst, wenn du gehört hast, was ich zu sagen habe.«
»Da kommt mehr?« Erneut verschränkte Merrick die Arme vor der Brust.
»Es wird wohl nicht ausreichen, dir zu versichern, dass es in deinem eigenen Interesse ist?« Antonius schien auf eine Reaktion zu warten, die ausblieb. Nach einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: »Wundert es dich nicht, dass ich einen Kontakt am Königshof habe?«
Merrick reagierte nicht. Ein weiteres Mal sah Lorraine auffordernd zu ihm, doch diesmal ignorierte er selbst sie. Dann würde sie eben die Frage stellen müssen. »Woher hast du Verbindungen zum Königshof?«
Eine Pause entstand, in welcher der alte Mann erst Lorraine und dann Merrick fixierte. »Dort haben wir uns kennengelernt, Susanna und ich«, sagte er schließlich mit fester Stimme.
Das wirkte. Merrick schnellte mit weit aufgerissenen Augen von seinem Platz auf. »Meine Mutter?«
»Ja. Wir haben uns am Hof der damaligen Königin kennengelernt.«
Das war wirklich eine Überraschung.
»Was hattet ihr hier zu schaffen?«
»Ich war dritter Hofbarde.«
Ebenso hätte er verkünden können, dass er dem Großen Lord Dearus persönlich begegnet war. Lorraine hätte mit vielem gerechnet, doch die Idee, dass ihr Vater am Königshof gearbeitet haben könnte, wäre ihr nie gekommen.
»Ich glaub’s nicht …« Mit fahriger Hand fuhr sich Merrick durchs Haar. »Und dort hast du Mutter getroffen? War sie eine Servitorin?«
»Nein, sie stammte aus einer wohlhabenden Familie. Wir verliebten uns. Aber ihre Beziehung zu einem Fahrenden wurde nicht geduldet. Sie weigerte sich, es zu beenden, und man verbannte uns.«
»Verbannt?« Merrick lachte. »Wir haben all die Jahre die Hauptstadt gemieden, weil du verbannt warst und man dich verhaftet hätte?« Sein Lachen wurde lauter, und er ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Du lachst mich nicht aus, Lorraine?« Der traurige Blick ihres Vaters vertiefte Lorraines Zerrissenheit. Zum einen quälten sie die eigenen gespaltenen Gefühle Antonius gegenüber. Zum anderen verstand sie seinen Schmerz.
»Warum sollte ich? Daran ist nichts Komisches. Ich finde die Geschichte tragisch. Besonders wenn man den Ausgang bedenkt.«
»Wie meinst du das?« Die Fäuste des alten Mannes krampften sich zusammen.
»Sie ist bei Merricks Geburt gestorben. Wie lange wart ihr da weg vom Hof? Ein Jahr, zwei?«
»Sechs Monate«, antwortete Antonius tonlos.
»Wenig Zeit für zwei Liebende, die alles aufgegeben haben, um zusammen sein zu können.«
»Du hast ja recht, Lorraine.« Merrick holte mehrmals tief Luft, bevor er weitersprach. »Dieser Teil ist traurig. Aber die Sache mit seiner Verbannung … Der überaus ehrenwerte und stets korrekte Antonius wird aus der Stadt geschmissen. Und dann erzählt er überall, dass Ostil keine Reise wert sei, dabei will er nur nicht in den Kerker. Das ist urkomisch.«
Lorraine warf ihm einen Du-bist-unmöglich-Blick zu und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Antonius. »Wie kannst du hier sein, wenn du verbannt wurdest?«
»Was sollen sie denn machen? Mich umbringen?« Er versuchte zu lachen, was in einem weiteren Hustenanfall endete. »Außerdem wollte ich noch diese eine Sache für dich tun, mein Sohn. Tara wollte mich davon abhalten, aber …« Er brach ab und schüttelte den Kopf, als hätte er zu viel gesagt.
»Wieso hat Mutter ein Problem damit?« Antonius verbarg etwas vor ihnen. Hatte es mit ihrer Abstammung zu tun? Im Gegensatz zu Merrick, der zumindest den Namen seiner Mutter kannte, wusste Lorraine gar nichts über ihren leiblichen Vater. Ihre Mutter hatte es stets abgelehnt, über ihn oder ihre Zeit vor der Ehe mit Antonius zu sprechen. »Da steckt doch mehr dahinter. War sie auch verbannt?«
Antonius schüttelte müde den Kopf. »Sie war Susannas …« Er zögerte kurz. »… Vertraute. Sie begleitete uns freiwillig.«
»Aber das bedeutet …« In Lorraines Brust versuchte ihr Herz es mit einem Purzelbaum, und sie atmete ein Mal tief durch. Schnell rechnete sie, und die Erkenntnis kam wie ein Schock. »Du kanntest Mutter vor meiner Geburt, und ich bin nur zehn Tage älter als Merrick.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Du weißt, wer mein leiblicher Vater ist, oder?« Die Worte kamen zittrig, doch das war ihr egal. Genauso wie die offensichtliche Anspannung, die sich durch ineinander verkrampfte Finger zeigte.
Auch Merricks Lachen verklang. Sanft fuhr seine Hand über ihre, drückte sie leicht, und sie beruhigte sich ein wenig.
»Es steht mir nicht zu, darüber zu reden«, antwortete Antonius steif.
»Du hast immer behauptet, nichts darüber zu wissen und …«
»Nein!«, fuhr Antonius sie an. »Ich habe schon zu viel gesagt. Dieses Geheimnis wird auf ewig gewahrt bleiben, das habe ich deiner Mutter geschworen.«
»Vielleicht hören wir auf, zu fragen, wenn du nett darum bittest, Vater?« Merricks beißender Spott veranlasste Lorraine dazu, ihre Hand aus seiner zu befreien. Musste er jedes Mal Streit anfangen? Selbst jetzt? Antonius würde sich nur noch mehr verschließen, wenn Merrick ihn weiter provozierte.
»Ich appelliere an dein Ehrgefühl, Merrick.« Ihr Vater richtete sich in seinem Bett auf. »Noch hege ich die Hoffnung, dass zumindest ein wenig davon in dir steckt. Die Ehre gebietet es …«
»Ah, die Ehre. Ich vergaß, wie wichtig die ist. Sei versichert, dass ich von der Art Ehre, die dir vorschwebt, keine Unze in mir trage.« Sein Tonfall nahm eine ätzende Färbung an. »Wo war denn deine viel beschworene Ehre, als du meine Mutter verführt und schwanger in die Verbannung gezerrt hast?«
Damit ging er eindeutig zu weit. So würden sie gar nichts erreichen. Kopfschüttelnd legte Lorraine eine Hand auf sein Knie, um ihn zurückzuhalten.
»Was denn?« Bevor sie reagieren konnte, nahm er ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die Innenfläche. »Siehst du, wie er zusammenzuckt, wenn ich das tue?« So schnell, wie er sie ergriffen hatte, ließ er ihre Hand los. »Vater erzählt uns wie immer nur das, was er preisgeben will. Es wäre doch nett, deine Mutter hereinzubitten und eine Erklärung zu verlangen?«
»Merrick, nein.« Lorraines Blick streifte den blassen Antonius.
»Warum ist es ihm so wichtig, dass wir beide keine Liebesbeziehung haben? Hast du dich das je gefragt?« Mit jedem Satz steigerte sich Merrick mehr in seinen Hass gegen den Vater, und Lorraine wusste nicht, wie sie gegenlenken konnte. In dieser Stimmung ließ er sich von niemandem aufhalten.
»Vielleicht haben die beiden uns jahrelang angelogen«, stichelte Merrick weiter, »und er ist nicht nur mein, sondern auch dein Vater. Vielleicht hatte der edle Barde Antonius damals am Hof eine Affäre mit zwei Frauen gleichzeitig, und man hat ihn deshalb verbannt. Das würde auch erklären, warum er nach dem Tod meiner Mutter direkt deine geheiratet hat.«
»Du vergisst dich, Merrick!« Antonius’ Stimme donnerte so stark wie früher durch den Raum. Doch schien ihn der Ausbruch viel Kraft zu kosten, denn er sank augenblicklich in seine Kissen und fuhr schwach fort: »Ich denke, wir sollten uns ein andermal weiter unterhalten, wenn du wieder Herr deiner Sinne bist.« Seine nächsten Worte richtete er an Lorraine: »Glaube mir, ich bin nicht dein leiblicher Vater. Bitte, versuche nicht, weiter in deine Mutter zu dringen, sie wird seine Identität niemals preisgeben.«
»Aber du weißt, wer es ist?«
»Ja«, kam die schlichte Antwort, die Lorraine einen Stich versetzte. Es fühlte sich wie Verrat an. Ihr Verhältnis zu Antonius war nie wirklich eng gewesen, allerdings besser als das von Merrick, und doch enthielt er ihr diese wichtige Information vor. Sie unterdrückte die Enttäuschung und sah ihren Stiefvater weiter hoffnungsvoll an. Ein klitzekleiner Hinweis würde ihr reichen.
»Deine Mutter hat viel aufgegeben, man könnte sagen, dass sie ihr Glück für meines und Susannas geopfert hat. Bitte, dräng sie nicht, und halte auch deinen Bruder davon ab, um ihretwillen.« Er schloss die Augen und zeigte damit an, dass das Gespräch beendet war.
Merrick hatte offenbar seine Grenze erreicht, denn er drehte sich wortlos um und stürmte hinaus. Gern hätte Lorraine den alten Mann umarmt, doch derlei Intimitäten hatte er nie geschätzt, weshalb sie sich erhob und ihm nur stumm zunickte, bevor sie ihrem Bruder folgte.
Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Auf keinen Fall wollte sie über ihren leiblichen Vater sprechen. Denn mit einer Sache hatte Antonius recht: Tara hatte deutlich gesagt, dass sie das Geheimnis um Lorraines Herkunft mit ins Grab nehmen würde. Weiteres Nachbohren war zum Scheitern verurteilt, das war Merrick offenbar ebenso klar wie ihr, denn Lorraine sah gerade noch, wie er ihrer Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange gab und wortlos das Zimmer verließ.
»Entschuldige, Mutter, Merrick ist ein wenig aufgewühlt. Ich sollte mich um ihn kümmern, damit er keine Dummheiten macht.« Tara strich ihr sanft über den Arm und nickte verständnisvoll. »Geh. Wir reden irgendwann später.«
Lorraine drückte ihre Mutter kurz, aber herzlich und lief ihrem Bruder hinterher. Auf der Straße vor dem Gebäude holte sie ihn ein. »Wo willst du hin?« Merrick riss sich mit einer wütenden Geste die Krawatte vom Hals, bevor er die obersten Knöpfe des Hemdes öffnete. Dann schnaufte er mehrmals tief durch und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht wirkte entspannt, doch das täuschte. Er war nach wie vor außer sich, und Lorraine ahnte, was kommen würde.
»Ich werde mir jetzt eine Schänke suchen, die ordentlichen Schnaps verkauft.«
»Wir haben noch nicht einmal Mittag«, versuchte sie, das Unumgängliche, wenn auch nicht zu vermeiden, so doch hinauszuzögern.
»Und? Seit wann spielt die Uhrzeit eine Rolle, wenn ich mich betrinken will?«
»Nie.« Es hatte in der Tat keinen Sinn, ihn davon abhalten zu wollen. Es war nicht so, dass Merrick ständig betrunken wäre, doch wenn er in einer seiner schlechten Phasen war, wie sie es nannte, konnte niemand ihn davon abbringen. Nicht einmal sie.
»Siehst du, wir verstehen uns.« Er zwinkerte ihr zu und drehte sich um.
Lorraine trat zu ihm und legte von hinten eine Hand auf seine Schulter. Ein letzter Appell an seine Vernunft. »Du willst dich jetzt nicht betrinken.«
»Ach?« Er sah sie entschlossen an. »Wenn das Gespräch eben kein Grund ist, weiß ich auch nicht.«
»Da könnte sogar was dran sein, und morgen kannst du tun und lassen, was du willst. Ich such dir eine Frau, ein Fass Rum und ein Bett, wenn es denn so wichtig ist.«
»Das ist mal ein Angebot.«
»Wir haben in einer Stunde einen Termin mit Zach, und da brauch ich dich bei klarem Verstand. Das steht nicht zur Diskussion.«
Sie hielt den Atem an, sah allerdings an seinen zu einem schmalen Strich zusammengekniffenen Lippen, dass sie Erfolg gehabt hatte. »Dann muss das Vergnügen eben warten, bis das Geschäftliche erledigt ist.«
»Außerdem willst du morgen früh bei Sonnenaufgang zum Schloss, da solltest du besser ausgeschlafen sein.«
»Ich will was?« Merrick starrte sie mit offenem Mund an.
»Zum Schloss. Morgen früh.« Lorraine tippte mit dem Zeigefinger energisch auf seine Brust. »Denn erstens wirst du dort erwartet. Selbst wenn du diese Stelle gar nicht haben willst, ist persönliches Erscheinen das Mindeste. Es ist immerhin der Königshof. Oder wärst du auch gern verbannt?«
Merrick klappte den Mund zu und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Außerdem«, fügte Lorraine hinzu und klimperte dabei betont unschuldig mit den Wimpern, »könntest du dich nebenbei ein wenig umhören. Wenn es dort Leute gibt, die Vater von früher kennt, könnte dir jemand mehr darüber erzählen, was damals wirklich vorgefallen ist. Und wenn du dabei ganz zufällig herausfindest, ob oder mit wem Mutter damals eine Affäre hatte, hast du wirklich was gut bei mir.«
Merricks Lachen hallte laut durch die Gasse. »Du bist unmöglich, Schwesterchen. Ich werde es mir überlegen.«