David Atwood, Herzog von Noen, ahnt nicht, welche Veränderungen ihm mit dem Tod seines Vaters bevorstehen. Das Testament zwingt ihn zur Ehe mit einer Unbekannten oder er verliert alles. Melina Lindahl kommt aus einem Königreich im Norden und ist nicht darauf vorbereitet, was sie auf Noen Manor erwartet. Können die beiden trotz Rassismus, Intrigen, Wahnsinn und Betrug zueinanderfinden?
Noen Manor
1
»Ich soll was?« David sprang auf. »Das kann nicht Euer Ernst sein!« Mit wenigen Schritten umrundete er den schweren Schreibtisch aus blank poliertem Eibenholz und starrte auf die Papiere in den Händen des Notars.
»Nun, Euer Gnaden, ich verlese nur, was Euer Vater verfügt hat.« Mister Chandler musterte David mit einem kühlen Lächeln.
»Er war nicht bei klarem Verstand, als er das aufsetzen ließ!«
»Euer Gnaden, ich verbürge mich dafür, dass der verstorbene Herzog im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er dieses Testament diktierte.«
»Die Schmerzmittel müssen ihm das Gehirn vernebelt haben«, murmelte David mehr zu sich selbst. Ein Räuspern ließ ihn herumfahren.
Seine Mutter musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. Verdammt, er hatte sich ihr noch nie so unbeherrscht gezeigt. Sein Verhalten war unverzeihlich! Sofort fühlte er sich gerügt. Ein kurzer Blick zu seiner Schwester Adella zeigte, dass sie nur auf dem Stuhl hin und her rutschte und jeglichen Blickkontakt zu ihm mied.
Inzwischen hatte sich David wieder vollständig unter Kontrolle und schlenderte zu seinem Stuhl zurück. Mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen setzte er sich wieder in den mit grünem Samt bezogenen Stuhl. »Und was heißt das jetzt für uns alle?«
Scheinbar gelangweilt schlug er die Beine übereinander. Innerlich schalt er sich für diesen Ausbruch. So etwas war ihm das letzte Mal als Halbwüchsiger passiert. Allerdings hatte auch noch nie jemand von ihm verlangt, …
»Nun«, unterbrach die Stimme des Notars seine Gedanken. »Wie bereits erwähnt, wird Eure Mutter den Ostflügel beziehen und von ihrer Witwenrente leben. Und Ihr …, wo waren wir …, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …, mein Sohn …, ah ja, hier.« Mr. Chandler räusperte sich. »Verfüge ich, dass der Titel des Herzogs von Noen nur dann an meinen Sohn, David Atwood, weitergegeben wird, wenn er folgende Bedingungen erfüllt: Vor Vollendung seines dreiundzwanzigsten Lebensjahres geht er die Ehe mit der Freifrau Melina Lindahl von Frosthorn ein. Die Ehe gilt nur dann als vollzogen und gültig, wenn daraus innerhalb von fünf Jahren ein Kind hervorgeht. Sollte einer dieser Punkte nicht erfüllt werden, gehen Noen Manor, alle Ländereien und der Herzogtitel an meinen Enkel, Linus Tremaine, Baron von Canning, über. Mein Sohn erhält in diesem Fall das Stadthaus in Ripford und eine jährliche Apanage von fünftausend Gulden.«
Mister Chandler sah fragend zu David.
Der saß mit verschränkten Armen da und blickte durch den Notar hindurch. Er musterte eingehend die Seidentapete mit dem goldenen Rankenmuster, die dem Raum eine behagliche Atmosphäre verlieh, während er darauf wartete, dass der Notar fortfuhr.
»Bis zum Ablauf der Frist bleibt das Vermögen des Herzogtums eingefroren. Mein Sohn erhält in dieser Zeit eine jährliche Summe von dreitausend Gulden zu seiner freien Verfügung. Weitere dreitausend sind an die Instandhaltung des Gutes gebunden. Schließlich erhält er noch einmal dreitausend Gulden für die Minen, Tierhaltung, Landwirtschaft und Sklaven. Das Vermögen seiner zukünftigen Frau bleibt von diesen Verfügungen unangetastet. Sollte mein Sohn die Bedingungen erfüllen, erhält er den Titel und vollen Zugriff auf das Vermögen. Gezeichnet Mortimer Atwood, sechster Herzog von Noen.« Mister Chandler räusperte sich. »So weit zum Testament des verstorbenen Herzogs. Das Geld wird auf das dafür eingerichtete Konto gutgeschrieben. Gibt es Fragen?«
David erhob sich und reichte seiner Mutter die Hand. »Liebste Mama, würdest du die Freundlichkeit besitzen und Hopkins darüber in Kenntnis setzen, dass ich eine halbe Stunde früher zu dinieren wünsche? Außerdem soll man Devil satteln lassen. Ich gedenke, später am Abend auszugehen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken und wandte sich an seine Schwester. »Wirst du gleich nach Canning Gardens zurückreisen oder bleibst du zum Dinner?«
»Ich reise ab. Ich habe Linus versprochen, heute Abend mit ihm zu essen!« Sie errötete leicht.
»Im Kinderzimmer? Oder erlaubst du dem Jungen etwa, im großen Speisesaal zu dinieren?« Seine Mutter schüttelte mit gerümpfter Nase den Kopf. »Ich hätte niemals erlauben dürfen, dass du einen Baron heiratest! Noch dazu einen, dessen Großvater nur ein einfacher Holzfäller war. So etwas führt zur Verrohung der Sitten. Merkt euch meine Worte.«
»Nun, Mutter, diese Diskussion solltest du besser mit deiner Tochter allein weiterführen. Ich habe noch einiges mit Mister Chandler zu besprechen. Wenn ich also bitten dürfte?« Er deutete in Richtung Tür.
»Selbstverständlich, mein Junge. Auch wir müssen noch ein ausführliches Gespräch über deine Zukünftige führen. Ich erwarte dich morgen nach dem Frühstück in meinem Salon!« Sie wandte sich an ihre Tochter. »Adella, wir halten deinen Bruder nur auf.« Ohne den Notar eines einzigen Blickes zu würdigen, rauschte sie aus dem Zimmer.
Adella folgte ihr in gemäßigtem Schritt. Kurz vor der Tür hielt sie noch einmal inne, drehte sich zu ihrem Bruder um und streckte ihm die Zunge heraus.
Er antwortete mit seinem besten Herzoglächeln, worauf sie kichernd den Raum verließ.
Mister Chandler hatte inzwischen in aller Seelenruhe das Testament wieder in seiner dunklen Ledertasche verstaut und wartete stumm.
»Werter Mister Chandler«, begann David, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. »Da Ihr mir versichert habt, dass mein Vater im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er dieses …«, er zögerte, »… Testament aufsetzen ließ, muss ich mich fragen, wie es sein kann, dass er seine Wünsche bezüglich einer arrangierten Vermählung meiner Wenigkeit mit einer mir völlig unbekannten Person, nie auch nur mit einer Silbe erwähnt hat. Kommt Euch das nicht auch merkwürdig vor?«
»Tatsächlich war ich in diese Pläne bereits eingeweiht, Euer Gnaden. Bis zum Einsetzen seiner Krankheit arbeitete ich an einem Schriftstück, das Euer Vater Euch zu Eurem dreiundzwanzigsten Geburtstag überreichen wollte. Es hätte dasselbe Angebot enthalten.«
Überrascht hob David die Brauen. »Wirklich? Und hat er Euch verraten, warum er so eine Klausel für nötig erachtete?«
»Das entzieht sich meinem Wissen, Euer Gnaden.« Bedauernd schüttelte Mr. Chandler den Kopf. »Allerdings hat er einen Brief hinterlassen, der Euch ausgehändigt werden soll, falls Ihr alle Bedingungen erfüllt. Und einen anderen, falls nicht.«
»Verschiedene Erklärungen, je nach meinem Verhalten? Kurios! Nun gut, ich danke Euch für Eure Mühe.« Er nickte dem Mann zu und verließ äußerlich gelassen den Raum. Auch die Halle durchquerte er in scheinbarer Ruhe.
Sobald er sein Arbeitszimmer, die Bibliothek, erreicht hatte, zog er sorgfältig die Tür zu. Erst, als er den Schlüssel im Schloss gedreht hatte, fiel die Maske der Gleichgültigkeit von ihm ab und machte unbändiger Wut Platz. Er nahm sich gerade noch die Zeit, Jacke und Weste abzustreifen, bevor er in einer schnellen Folge von Tritten und Schlägen auf seine Trainingspuppe einhieb.
2
»Sieh nur, Frida! Zadura!« Melina beugte sich weit über die Reling des Luftschiffes und deutete auf einen grünen Flecken am Horizont.
»Es ist auch da, wenn du nicht versuchst, dich in den Tod zu stürzen.« Melinas alte Amme stand in gebührendem Abstand zur Reling und winkte ihren Schützling zurück.
»Du bist immer so ängstlich! Was soll schon passieren?« Lachend trat Melina dennoch einen Schritt zurück. »Zadura ist grün. Und das im Winter. Meinst du, es stimmt, dass dort nie Schnee fällt? Ich habe gelesen, dort herrscht das ganze Jahr über die gleiche Temperatur. Wärmer als in unseren Sommern.«
Frida lächelte nachsichtig. »Mädchen, wir müssen noch einmal durchgehen, was dich bei deiner Ankunft erwartet.«
Seufzend hakte sich Melina bei ihrer Amme unter. »Ich werde auf den weitläufigen Besitzungen des Herzog Noen leben. Als seine Ehefrau. Und Herrin über fast fünfhundert Sklaven sein.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Meinst du, es stimmt, dass die Uyato in Noen Manor gut behandelt werden? Vater hat mir versichert, dass sich sein alter Freund niemals grausam verhalten würde. Ich habe gelesen, dass es Gutsbesitzer gibt, die ihre Sklaven wie Tiere halten.«
»Ich bin sicher, dass das in deinem zukünftigen Heim anders sein wird. Ich kenne den alten Herzog noch von früher. Als deine Eltern und er noch Kinder waren, hat er oft viele Wochen in Frosthorn verbracht. Und er war immer freundlich zu deiner Mutter. Nie ein böses Wort darüber, dass sie ein Halbblut ist.« Sie lächelte ihre Schutzbefohlene liebevoll an. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass deine Herkunft weder für den Herzog noch für seinen Sohn ein Problem darstellen wird. Und auch für sonst niemanden in Zadura. Man sieht dir dein Uyatoerbe schließlich nicht an.« Sanft strich sie durch Melinas dunkelbraunes Haar. »Keine grüne Strähne und auch deine Augen leuchten nicht golden.«
»Mama sagt immer, dass meine Augen im Sonnenlicht so golden glänzen wie die ihrer Mutter«, erwiderte Melina lachend.
»Dann solltest du in Zadura darauf achten, dass die Sonne nicht in deine Augen scheint. Sollte irgendjemand hinter deine Abstammung kommen, wird dein Leben dort unnötig kompliziert werden.«
»Ich weiß. Vater hat es mir eingetrichtert: Rede in Zadura niemals über dein Erbe. Verberge deine Heilkräfte und benimm dich – ein einziges Mal in deinem Leben!« Erneut lachte sie. »Ach ja, und rede zadurisch!« Sie verzog das Gesicht. »Ich hoffe, man sieht mir nach, dass es nicht meine Muttersprache ist. Aber was soll schon passieren? In wenigen Wochen werde ich einen zukünftigen Herzog heiraten. Was meinst du, wie er aussieht? Stattlich? Hübsch? Ein strahlender, blonder Held? Oder grimmig und düster? Ein Mann mit einem dunklen Geheimnis und gebrochenem Herzen, das nur ich heilen kann?«
»Wo nimmst du nur immer diese Ideen her? Wir hätten dir niemals erlauben sollen, all diese Romane zu lesen.«
Ein harter Ruck ging durch das Luftschiff, dann ein zweiter und einer der Matrosen kam auf sie zugelaufen. »Wir befinden uns im Landeanflug. Es wird sicherer sein, wenn sich die Damen so lange in ihre Kabinen begeben. Der Landeplatz auf Noen Manor ist klein, und es könnte ein wenig holprig werden.«
»Dann begeben wir uns also in unsere Kabine. Komm Frida!« Melina klatschte in die Hände. »Ich kann es kaum erwarten, dass mein neues Leben beginnt!«
Eine Stunde später stand Melina erneut an der Reling und wartete unruhig darauf, dass die letzten Taue festgemacht wurden. Immer wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen und versuchte einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der ihr Ehemann werden sollte.
»Jetzt steh still, Kind!«, tadelte Frida. »Was soll er denn von dir denken?« Kopfschüttelnd zupfte sie das Tuch um Melinas Schultern zurecht. »Wie schaffst du es nur immer, dass deine Kleidung in eine solche Unordnung gerät? So müsste es gehen. Er soll dich ja schließlich nicht für eine schmuddelige Göre aus der Provinz halten.«
»Das wird er bestimmt nicht. Ich bin hübsch!« Und das stimmte. Obwohl sie nicht besonders groß war, ihre Haare unauffällig braun und ihre Figur durchschnittlich, besaß sie eine Präsenz, die dafür sorgte, dass jeder sie sofort bemerkte. Das lag vor allem an ihren Augen. Zwar zeigten sie nicht den auffälligen Goldton, der den Uyato zu eigen war, aber das helle Braun war mit einem Leuchten unterlegt, dass jedem den Atem raubte. In Kombination mit der blassen Haut, den hohen Wangenknochen und den blutroten Lippen, galt sie nicht nur in ihrer Heimat als Schönheit.
»Hübsch vielleicht.« Frida runzelte die Stirn. »Aber zadurische Frauen legen sehr viel Wert auf ein korrektes Äußeres und …«
»Ist er das?«, unterbrach Melina ihre Amme und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. »Ist er wirklich so groß? Er wirkt ein wenig streng. Und helle Haare? Haben Zadurer nicht meist dunkles Haar?« Sie ließ Frida keine Zeit zu antworten. »Und trägt er tatsächlich einen Bart? Männer mit Bart sind so … alt!« Sie schüttelte sich. »Und schau, wie er da steht. So steif und förmlich. Was soll dieser hochnäsige Blick? Ist unser Luftschiff nicht gut genug für ihn?« Kämpferisch streckte Melina das Kinn nach vorn.
»Beruhige dich, Kind. Du interpretierst wieder viel zu viel in Äußerlichkeiten hinein. Lerne ihn doch erst einmal kennen, bevor du dir ein Urteil erlaubst.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen so herausgeputzten Mann kennenlernen will. Oder heiraten!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund. Doch sie behielt diese Haltung nicht lange bei, da bereits etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. »Ist das da hinten das Herrenhaus? Das ist wunderschön!« Langsam ließ sie die Arme sinken und blickte versonnen auf das weitläufige Gebäude aus rotem Backstein. Drei Stockwerke hoch, hatte es so viele Türme, Erker und Nebengebäude, dass sie sicher war, mehrere Tage zu brauchen, um es zu erkunden. »Meinst du, es gibt auch Geheimgänge?«
»Bitte, meine Damen, sie können das Schiff jetzt verlassen!«, verkündete da der Matrose von vorhin.
*
Mit wachsendem Unmut betrachtete David das Landemanöver des Luftschiffes. Seine Zukünftige hatte den von ihm so geschätzten, geregelten Tagesablauf durcheinandergewirbelt. Schon wieder. Eigentlich verliefen seit der Testamentseröffnung all seine Tage chaotisch. Der ganze Haushalt war in Aufregung und alle Routine hatte sich in Nichts aufgelöst. Das Schlimmste war, dass er selbst damit angefangen hatte. Er hatte an jenem Abend das Dinner vorgezogen und war, ganz gegen seine Gewohnheiten, in die Stadt geritten. Doch ihm war schnell klar geworden, dass er dort keine Ablenkung finden würde. Noch bevor er die Stadttore erreichte, hatte er umgedreht. Ein schneller Ritt und eine nächtliche Trainingsstunde mit Ylyndar, seinem Ukyulehrer, hatten seine aufgewühlten Gedanken ein wenig beruhigt.
Der alte Sklave redete selten und hatte einige besonders komplizierte Folgen mit ihm geübt. Sie hatten bis in die frühen Morgenstunden trainiert und Tee getrunken. Danach war David in einen traumlosen Schlaf gesunken, bis Hopkins ihn am Mittag geweckt und an die Verabredung mit seiner Mutter erinnert hatte.
Dieses Treffen hatte nicht dazu beigetragen, seine Laune zu verbessern. Er hatte sich schon gedacht, dass seine Mutter dieser Eheschließung genauso ablehnend gegenüberstand wie er selbst. Aber musste sie das stundenlang vor ihm ausbreiten? Er konnte ihr auch nicht darin zustimmen, dass er mit einer zadurischen Frau besser dran gewesen wäre. Er brauchte kein Weibsbild, das seinen Tagesablauf durcheinanderbrachte.
Erst nachdem er zum fünften Mal seine Taschenuhr gezogen und einen langen Blick darauf geworfen hatte, entließ ihn seine Mutter. Doch damit hatte das Chaos erst begonnen. Inzwischen war ein Brief eingegangen, der die Ankunft seiner Zukünftigen ankündigte. Am übernächsten Nachmittag! Das Luftschiff, mit dem dieser Brief bereits vor Wochen hätte eintreffen sollen, war in einen Sturm geraten und vom Kurs abgekommen. Also blieben gerade einmal achtundvierzig Stunden, um alles vorzubereiten.
Die Folge war, dass es überall von Haussklaven nur so wimmelte. Sie putzten und polierten oder klopften Teppiche und Gardinen aus. Seine Mutter herrschte über das Ganze wie eine Königin. Ihr entging nicht das geringste Staubkorn. Nicht einmal vor seinem Arbeitszimmer machte sie halt. Auch wenn ihm nicht klar war, was seine Braut dazu bewegen sollte, sich dort aufzuhalten.
Als seine Mutter darauf bestand, die Trainingspuppe aus dem Zimmer zu entfernen, hatte er sich allerdings schlichtweg geweigert. Alles, was recht war, aber ohne sein tägliches Training würde er den Verstand verlieren!
Er hatte seinen Aufenthalt im Haus auf das Nötigste beschränkt. Das Gut würde die zwei Tage ohne seine volle Aufmerksamkeit überleben. Nach der Ankunft des Mädchens würde sich alles schnell beruhigen, und er konnte zur Routine zurückkehren.
Seine Zeit hatte er mit Ylyndar hinter dessen kleiner Hütte verbracht. Meist hatten sie trainiert. Doch sobald es dunkel wurde, hatte der alte Sklave ein Feuer entzündet, Tee zubereitet und David eine Tasse davon gereicht. Er mochte den Tee des Alten. Er sorgte dafür, dass sich Glieder und Geist nach den anstrengenden Trainingsstunden entspannten.
Natürlich würde er seiner Mutter niemals erzählen, dass er Getränke von einem Uyato annahm. Es war allgemein bekannt, dass ihr Gebräu fragwürdige Nebenwirkungen hatte. Aber gegen ein wenig Entspannung nach einem anstrengenden Tag war nichts einzuwenden. Außerdem erlaubte er sich den Genuss nur an Tagen, an denen es ihm besonders schwergefallen war, Haltung zu bewahren. Seine Freunde tranken an solchen Tagen Wein oder Schnaps, er den Tee eines Sklaven.
Er schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Luftschiff. Klein und von gedrungener Bauart, war es ein Wunder, wie es sich überhaupt in der Luft halten konnte. Das sagte zumindest der Kapitän seines eigenen Luftschiffes. Zadurische Schiffe waren größer und schlanker gebaut.
Seine Aufmerksamkeit wanderte von der Bauart des Schiffes weg zu den beiden Frauen, die jetzt immer deutlicher zu erkennen waren. Ihm war sofort klar, welche von ihnen Melina Lindahl war. Sie deutete völlig ungeniert auf ihn und sagte etwas zu der älteren Frau. Bei den Göttern waren diese Frauen klein! Kaum größer als ein Uyato!
Jetzt verließen sie das Luftschiff und kamen langsam auf ihn zu. Er verschwendete keinen zweiten Blick auf die ältere Frau. Seine Braut hingegen zog ihn völlig in ihren Bann. Forsch und doch anmutig eilte sie den Kiesweg entlang. Mit jedem Schritt, den sie näher kam, beschleunigte sich sein Herzschlag. Wie konnte eine so winzige Person eine solche Präsenz ausstrahlen? Alles verblasste um sie herum! Sein Blick glitt über ihren Körper, ihre Lippen und blieb schließlich an ihren Augen hängen. Augen, in denen er sich hätte verlieren können. In ihnen brannte ein Feuer, das seine abgestumpften Sinne zum Vibrieren brachte.
Diese Augen musterten ihn jetzt von oben bis unten. »David Atwood, nehme ich an?«
Auch ihre Stimme war reizend. Viel tiefer, als man bei einer so kleinen Frau erwartet hätte, aber melodisch. Und sie sprach ohne jeden Akzent.
»Zu Euren Diensten!« Er neigte huldvoll den Kopf und erlaubte sich nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Stattdessen fixierte er einen Punkt kurz oberhalb ihres Scheitels. »Ihr müsst müde sein von der langen Reise. Ich habe Zimmer für Euch und Eure Begleitung herrichten lassen. Lasst mich wissen, ob Ihr noch andere Haussklaven mitgebracht habt, damit wir dementsprechend Unterkünfte vorbereiten können.« Sein Blick fiel auf ihren Mund. Die volle Unterlippe und der perfekte Schwung der Oberlippe luden zum Küssen ein. Wie es sich wohl anfühlen würde, diese Lippen zu berühren? Sie zu schmecken? Plötzlich wünschte er, er könnte sie an sich ziehen und …
»Ich habe keine Sklaven!« Sie spie das letzte Wort aus, als wäre es etwas Ekelerregendes. »Frida ist meine Amme und genauso frei, wie ich es bin!«
Natürlich! In Fjördur gab es keine Sklaverei. Das hätte er wissen müssen. Was für ein Fauxpas! Sofort zog er sich hinter eine Maske der Unnahbarkeit zurück. »Ihr habt nur eine Bedienstete mitgebracht?«
»Habt Ihr nicht genug Personal, um es mir bei Bedarf zur Verfügung zu stellen?« Sie reckte ihr entzückendes Kinn herausfordernd vor. Jetzt stoben Funken aus ihren Augen, die ihn zu verbrennen drohten.
»Ihr könnt so viele meiner Haussklaven in Anspruch nehmen, wie Ihr benötigt. Ich dachte nur, es sei Euch vielleicht nicht recht, von Sklaven bedient zu werden? Wie dem auch sei. Im Haus erwartet Euch eine Erfrischung. Danach zeigt man Euch Eure Räumlichkeiten. Dinner wird um acht serviert. Ich erwarte Euch eine halbe Stunde vorher in der Bibliothek. Da wir in Zukunft ein Mindestmaß an Zeit miteinander verbringen werden, habe ich mir erlaubt, einen Terminplan aufzustellen.« Er drehte sich zum Gehen, bevor ihre Augen ihn wieder in seinen Bann ziehen konnten. Der Tag würde auch so schwer genug für ihn werden.
Melina ersparte ihm eine weitere Unterhaltung. Sie lehnte die angebotenen Erfrischungen ab und ließ sich stattdessen gleich ihre Räumlichkeiten zeigen. So blieben ihm knapp zwei Stunden, um wenigstens einen Teil der verpassten Arbeit nachzuholen.
*
»Er ist der unhöflichste Mensch, dem ich je begegnet bin!« Melina stemmte die Arme in die Hüften und funkelte die Tür an.
»Hopkins? Ich fand ihn sehr freundlich. Ist dir …«
»Ich meine natürlich meinen Verlobten! Und seinen Vater! Hätte der uns nicht willkommen heißen müssen? Ich bin noch nie in meinem Leben so beleidigt worden. Was hat sich Papa dabei gedacht, mich mit so einem Rüpel zu verkuppeln. Man sollte doch meinen … Argh!« Hilflos warf sie die Hände in die Luft. »Entschuldige, Frida, was wolltest du sagen?«
»Ist dir aufgefallen, dass die Haussklaven allesamt Uyato-Halbblute zu sein scheinen?«
»Natürlich! Ich will gar nicht daran denken, was aus mir in diesem Land geworden wäre. Wie es den Anschein hat, lassen sie ihnen nicht einmal ihre Namen. Wie kommen sie darauf, diesen Mann Hopkins zu nennen. Uldyr oder Yendryl wären passende Namen! Man nimmt ihnen ihre Identität und …«
»Dein Name ist Melina.« Die Amme schmunzelte.
»Mein Name ist Melina Lyre! Du weißt sehr genau, dass Mama und Großmama mich immer Lyre nennen. Und das aus gutem Grund. Ich verleugne mein Erbe nicht.« Sie drückte die Schultern durch. »Dieser blasierte Möchtegernherzog wird wohl lernen müssen, mich mit vollem Namen anzusprechen. Und wenn er daran erstickt.«
Kopfschüttelnd strich ihr Frida übers Haar. »Mädchen, wir haben das doch besprochen. Hier in Zadura lautet dein Name Melina Lindahl, Freifrau von Frosthorn. Und was den jungen Mann angeht: Er ist bereit, dich zu heiraten. Obwohl deine Großmutter eine Uyato war.« Als Melina aufbegehren wollte, tätschelte Frida ihr beruhigend den Arm. »Halte dich an die Regeln. Er hat dein Erbe akzeptiert. Akzeptiere du seins. Mach dich frisch, dann richten wir dich her und du gehst zu eurer Verabredung.«
»Und bekomme meinen Terminplan!« Melina schnaubte. »Habe ich mir das wie einen Stundenplan vorzustellen? Als ob man Tage durchplanen könnte! Sie passieren einfach. Erinnerst du dich an meine Schulzeit? Wann ist es einem meiner Lehrer je gelungen, den aufgestellten Stundenplan einzuhalten?«
»Das ist eine Sache, die der junge Mann selbst herausfinden muss, nicht wahr? Für den Anfang solltest du ihm den Gefallen tun. Nimm sein Hilfsangebot an, halte dich an seine Vorschläge und lass die Zeit für dich arbeiten.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Frida. Es waren zwei Diener, die Melinas Reisetruhe brachten. Sie stellten das schwere Stück vor dem großen Himmelbett ab und verbeugten sich.
»Vielen Dank!« Melina strahlte die Männer an und suchte in ihren Taschen nach Kleingeld. »Oh, ich fürchte, ich besitze nur Taler.« Bedauernd hielt sie ihnen die Münzen hin. Dann zog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Aber wenn ihr mir eure Namen sagt, werde ich mit dem Herzog reden, und er wird dafür sorgen, dass ihr eine Belohnung erhaltet.«
»Nein!« Ein ängstlicher Ausdruck trat in die Augen beider Sklaven, und sie schüttelten fast beschwörend den Kopf.
Der Größere trat vor. »Euer Dank ist uns Belohnung genug, Herrin.« Sein Blick blieb an dem daumennagelgroßen Stein hängen, den sie um den Hals trug. Seine Augen weiteten sich und er musterte sie genauer. Dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Neÿ mÿan Naðul.« Er berührte schnell mit der Faust seine Brust und Stirn. Sein Begleiter tat es ihm gleich.
»Es ist uns eine Ehre, Euch kennenzulernen!« Sie legten noch einmal die Faust an die Brust und verließen den Raum.
»Dieser Stein, was bedeutet er?« Frida deutete auf das Schmuckstück.
»Er stammt von Großmutter. Sie sagt, er habe einst ihrer Mutter gehört. Es ist ein ganz normaler Stein.« Schulterzuckend drehte sie ihn in den Händen. »Meine Großmutter nannte ihn Verdestin. Soweit ich weiß, ist er nichts Besonderes.«
»Die beiden eben schien er beeindruckt zu haben. Was hat er gesagt?«
Melina runzelte die Stirn: »Wir werden Euer Geheimnis wahren.« Jetzt lachte sie. »Die machen sich völlig unnötig Sorgen. Aber egal! Welches Kleid soll ich tragen? Freizügig oder hochgeschlossen?« Noch im selben Moment winkte sie ab. »Nicht hochgeschlossen. Dafür ist es viel zu warm. Wie wäre es mit dem roten Sommerkleid? Ist das angemessen?«
»Ausgezeichnete Wahl!« Eifrig machte sich Frida daran, das Kleid und den dazugehörigen Schmuck auszupacken. »Den Verdestin wirst du abnehmen müssen. Er passt nicht zu diesem Kleid.«
Melina nickte. Für diesen Abend würde sie auf ihr Lieblingsschmuckstück verzichten. Zeit für ein Bad blieb zwar nicht, aber sie wusch sich ausgiebig. Neben dem großen Schminktisch aus rötlichem Kirschbaumholz stand ein kleinerer, mit einem Krug Wasser und einer Waschschüssel. Schon bald war der Raum von einem leichten Fliederduft erfüllt, und Melina war bereit zum Ankleiden.
Sobald sie in das einfach geschnittene, ärmellose Kleid geschlüpft war, machte sich Frida daran, ihr den filigranen Halsschmuck anzulegen, der sich um Hals und Dekolleté schmiegte. Zu den Armen hin verbreiterte sich das Geschmeide und umschloss ihre Schultern. Ein schmales, zu einem Zopf gewundenes Band führte bis unter ihre Brüste, verbreiterte sich und brachte das weite Kleid als Gürtel in Form.
»Perfekt! Jetzt stecke ich noch deine Haare auf und dann kannst du deinem zukünftigen Mann gegenübertreten.«
Melina setzte sich auf den weich gepolsterten Stuhl vor dem Schminkspiegel und legte die Hände in den Schoß.
»Und seinem Vater! Findest du es nicht auch merkwürdig, dass ich weder den Herzog noch seine Frau bisher kennengelernt habe? Ich werde David einfach fragen. Oder sollte ich ihn Euer Gnaden nennen?« Sie legte den Kopf schief und biss sich auf die Unterlippe.
»Kind, wenn du ihn mit diesem Blick anschaust, wird es ihm egal sein, wie du ihn nennst.«
»Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Schönheit ihn irgendwie beeindruckt hat. Er schien mich eher nicht zu beachten.«
»Dann wird sich das jetzt ändern.« Frida warf einen Blick auf die große Standuhr in der Ecke. »Du solltest gehen, damit du nicht zu spät kommst. Dein David scheint viel Wert auf Pünktlichkeit zu legen.«
»Ich weiß nicht, ob er je mein David werden wird.«
Nach einem letzten Blick in den Spiegel machte sie sich auf den Weg in die Bibliothek. Leider hatte sie Hopkins nicht zugehört, als er erklärt hatte, in welchem Teil des Hauses diese lag. Und nicht darauf geachtet, welchen Weg sie zu ihren Räumen genommen hatten. Der lange Flur sah auf beiden Seiten gleich aus. Ein dunkelroter Teppich, beigefarbene Tapeten mit einem dezenten Blumenmuster und Gaslampen neben jeder Tür. Am rechten Ende des Flurs konnte sie ein buntes Glasfenster ausmachen. Auf dem Boden davor fehlte der Teppich und helle Holzdielen waren zu sehen. Links und rechts davon gingen Gänge ab. Am linken Ende befand sich kein Fenster aber ebenfalls zwei weitere Flure.
Sie betrachtete eine Weile das Fenster und den Boden davor. Schließlich entschied sie sich schulterzuckend für die rechte Seite. Am Ende des Flurs bog sie aus keinem besonderen Grund links ab. Nach drei weiteren Abzweigungen hatte sie sich hoffnungslos verlaufen. Eigentlich hätte sie schon längst die Haupttreppe erreichen müssen. Allerdings sahen alle Flure gleich aus. An einem weiteren Fenster blieb sie erneut stehen und warf einen Blick nach draußen: ein weitläufiger, ordentlich gepflegter Garten. Sie sah sogar einen Springbrunnen und einen Irrgarten. Gut, jetzt wusste sie zumindest, dass sie auf der falschen Seite des Hauses war. Es dauerte noch einmal fünf Minuten, bis sie die große Galerie oberhalb der Treppe erreichte.
Ein Bild erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Es musste sich um ein Familienporträt der Herzogsfamilie handeln. Den alten Herzog schloss sie sofort in ihr Herz. Er erinnerte sie sehr an ihren eigenen Vater. Groß und stattlich, mit hellem Haar, bei dem man nicht sagen konnte, ob es blond oder grau war. Er stand hinter einem Stuhl und hatte die Hand auf die Schulter einer Frau gelegt, deren Anblick Melina schaudern ließ. Ihre zeitlose Schönheit, gepaart mit den kunstvoll arrangierten schwarzen Locken und den leuchtend grünen Augen, weckte eine spontane Abneigung in Melina. Sie zeigte denselben hochmütigen Ausdruck, mit dem David sie bei der Begrüßung gemustert hatte.
Ihr Blick fiel auf das Bild des Mannes, den sie bald heiraten würde. Es zeigte einen wenige Jahre jüngeren Mann: das Gesicht bartlos, die sandfarbenen Haare bis auf die Schultern hängend und die Augen … Keine Spur von Arroganz oder Härte. Dieser Mann freute sich seines Lebens. Seine Augen leuchteten in demselben eigentümlichen Grün, wie die der Herzogin. Aber voller Güte und Humor. Was war wohl der Grund, dass sie diesen Ausdruck verloren hatten?
Neben ihm stand eine junge Frau, die der Herzogin auf merkwürdige Weise glich. Man konnte die Ähnlichkeit fast greifen, aber während die ältere Frau abweisend, aber wunderschön wirkte, galt für die jüngere das genaue Gegenteil: Sie war nicht schön, aber Melina fühlte sich direkt zu ihr hingezogen. Genau wie David strahlte sie Ruhe, Güte und Humor aus.
Melinas Blick wanderte weiter und blieb an einem Porträt des alten Herzogs hängen. Quer über das Bild spannte sich ein Trauerflor. Mit einem Mal verstand Melina, warum der Herzog sie nicht begrüßt hatte. Er musste vor Kurzem verstorben sein.
In diesem Moment hörte sie eine Tür schließen und sah Hopkins aus einem der Zimmer treten. Er beeilte sich, die Treppe zu erreichen. Auf halbem Weg fiel sein Blick auf Melina. »Ich habe Euch gesucht, werte Dame! Seine Gnaden erwartet Euch. Da Ihr bereits verspätet seid, sollten wir so schnell wie möglich …«
»Ist schon gut.« Melina stand inzwischen neben ihm auf der Treppe und legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm. »Die Bibliothek ist der Raum, aus dem Ihr gerade kamt?«
»Ja, meine Dame, aber Ihr solltet nicht …«
»Ich werde seine Gnaden darüber aufklären, dass Euch keine Schuld an meiner Verspätung trifft. Er wird Euch nicht bestrafen.«
»Seine Gnaden hatte niemals die Absicht …«
»Da bin ich aber beruhigt.« Sie tätschelte noch einmal seinen Arm und ging dann, so schnell es ihr Kleid zuließ, auf die Bibliothek zu.
Ein wenig atemlos trat sie ein und hob unwillkürlich eine Hand vor den Mund. Die eine Hälfte der Bibliothek bestand, ganz wie zu erwarten, aus hohen Bücherregalen, vor denen drei gemütlich aussehende weinrote Ledersessel zum Verweilen einluden. Doch die andere Seite öffnete sich in einen großen Wintergarten, in dem die verschiedensten Grün- und Blühpflanzen einen angenehm erdigen Duft verströmten. Eine hölzerne, weich gepolsterte Trainingspuppe, wie Melina sie von den Soldaten ihres Vaters kannte, stand am Übergang zwischen den Räumen. Ihr gegenüber befand sich ein Sofa, in der gleichen Farbe der Sessel.
Am hinteren Ende des Bibliothekteils stand David vor seinem Schreibtisch, die Taschenuhr in der Hand und durchbohrte Melina mit vorwurfsvollem Blick.
Sie beschloss, die Arroganz und Missbilligung zu ignorieren und ihre Worte an den Mann zu richten, den sie auf dem Familienporträt gesehen hatte.
Mit ausgebreiteten Armen, wie es in Fjördur zum Ausdruck großer Trauer üblich war, ging sie auf ihn zu, nahm seine linke Hand, umschloss sie und legte sie flach auf ihr Herz. »Tiefste Trauer und mein Mitgefühl.« Diese Worte waren nur eine unvollkommene Übersetzung des fjördurischen Trauergrußes, aber sie war sicher, dass David die Geste verstehen würde.
Jetzt erst sah sie auf und schenkte ihm ein kleines Lächeln, das jedoch sofort gefror, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie hatten sich verdunkelt und den Glanz darin konnte sie nicht einordnen. Eine heftige Gefühlsregung, so viel war klar. Hatte sie etwas getan, was seinen Zorn erregte? Noch während sie nachdachte, zog er die Hand weg, umrundete den Schreibtisch und warf einen Blick auf seine Uhr.
»Ihr seid zu spät! Ich habe Euch bereits vor zehn Minuten erwartet.«
War es in Zadura nicht üblich, auf eine Beileidsbekundung wenigstens zu antworten? Oder war er bewusst unhöflich? Oder übermannte ihn die Trauer, und er versteckte das hinter einem unnahbaren Äußeren? Ja, so musste es sein. Melina beschloss, ihm seine stille Trauer zu lassen und nicht weiter darauf einzugehen. Vielleicht später, wenn sie sich ein wenig besser kannten. Also senkte sie den Blick. »Es tut mir leid. Ich habe mich verlaufen und die wunderschönen Fenster im ersten Stock bewundert. Es macht mich glücklich, zu sehen, dass Euer Vater die Skjörlund nicht vergessen hat.«
David runzelte die Stirn. »Skjörlund?« Er schien nicht sicher, ob er das Wort richtig aussprach.
»Die Geister der Abenddämmerung? Deshalb liegen diese Fenster alle im Westen. Sie erzählen die Geschichte von Fraja und ihrem Mann Londir, die im Land der Skjörlund endlich zusammen sein können.« Sie musterte ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf. »Ihr habt keine Ahnung, wovon ich spreche, oder?«
Ein kurzes Kopfschütteln war die Antwort.
Melina klatschte in die Hände. »Dann werde ich es Euch später zeigen! Wann geht die Sonne heute unter?«
»Gegen Viertel vor zehn«, antwortete er immer noch stirnrunzelnd.
»Gut! Dann treffen wir uns um halb zehn vor meinem Zimmer. Abgemacht?« Eine wunderbare Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen. Sie lächelte ihn an.
Langsam ließ er die Hand mit der Uhr sinken. »Dagegen ist wohl nichts einzuwenden. Schließlich werden wir heiraten.«
Er musterte sie wieder mit diesem eigentümlichen Ausdruck, den sie nicht zu deuten wusste. Genauso wenig, wie die Gefühle, die er in ihr auslöste. Ihr war gleichzeitig warm und kalt, und ihre Knie wurden weich.
Er schluckte und schüttelte den Kopf. »Zum eigentlichen Punkt dieses Treffens …« Geschäftig steckte er die Taschenuhr zurück in seine Weste. »Da wir in diesem Haus leben werden, halte ich es für wichtig, dass Ihr die Regeln und Abläufe kennt – und Euch daran haltet!«
Sein Blick zeigte, dass er an dieser Stelle eine Reaktion ihrerseits erwartete. Also nickte sie eifrig.
Das schien ihm zu genügen. »Frühstück gibt es um halb neun, Mittag um halb eins, Tee um sechzehn Uhr und Dinner um acht. Wenn Ihr essen wollt, dann findet Euch zu diesen Zeiten im Speisezimmer ein. Oder im Salon, falls Ihr Tee wünscht. Wer zu spät erscheint, legt offensichtlich keinen Wert auf diese Mahlzeit, ist aber zur folgenden herzlich willkommen.«
Wie will er diese Regel denn durchsetzen? Schließt er die Tür zum Speisezimmer ab?
»Nach dem Frühstück reite ich eine Stunde über die Güter und kümmere mich um alle Belange, die dort anfallen. Anschließend verbringe ich den Rest des Vormittags hier in der Bibliothek und gehe meinen Geschäften nach. Das Betreten dieses Raumes ist euch strengstens untersagt – außer auf meine ausdrückliche Einladung. Solltet Ihr ein Buch lesen wollen, bittet Hopkins, es Euch zu bringen.«
Wieder schien er auf eine Bestätigung ihrerseits zu warten. »Selbstverständlich, Euer … Wie soll ich Euch ansprechen?«
Er tippte sich dreimal mit dem Zeigefinger gegen den Mund. »In Anbetracht der Tatsache, dass wir bald heiraten werden, halte ich es für angemessen, wenn Ihr mich David nennt.«
»Also gut, David. Ihr könnt mich Melina nennen.« Sie versuchte es erneut mit einem freundlichen Lächeln, das an ihm abzuprallen schien.
»Nach dem Mittagessen gehe ich unterschiedlichen Beschäftigungen nach. Oft ist es mir nicht möglich, den Tee einzunehmen, aber meine Mutter wird Euch dabei gern Gesellschaft leisten. Zum Dinner bin ich meist anwesend. Danach verbringe ich noch einige Zeit im Salon oder im Spielzimmer.« Das erste Lächeln des Abends zeigte sich auf seinem Gesicht. Es erreichte jedoch nicht seine Augen. Die ruhten kalt auf ihr. »Noch irgendwelche Fragen?«
»Es ist sehr schmeichelhaft, dass Ihr mich von Eurem Tagesplan in Kenntnis setzt, aber was habe ich damit zu tun? Außer zu den Mahlzeiten scheint es keine Berührungspunkte zu geben. Heißt das, ich kann meine Tage verbringen, wie ich möchte?«
»Im Großen und Ganzen, ja.« Er stutzte, setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber.
»Ich darf mich also überall frei bewegen? Oder ausreiten?«
»Wenn Ihr das wünscht.« Seine Hand glitt in die Tasche und er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir sollten uns zum Dinner ins Speisezimmer begeben. Meine Mutter lässt sich entschuldigen. Sie erwartet Euch allerdings morgen Nachmittag zum Tee.« Er kam hinter dem Schreibtisch vor, ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und verließ den Raum.
Wie merkwürdig. Gebot die Höflichkeit in diesem Land es auch nicht, dass er ihr seinen Arm reichte? Sie beschloss, dass es müßig war, über diese Frage nachzudenken, und folgte ihm lieber schnell. Sie hatte nämlich nicht die geringste Ahnung, wo sich das Speisezimmer befand.
3
David stand in der Bibliothek und blickte zum zehnten Mal innerhalb der letzten halben Stunde auf seine Taschenuhr. Wenn er sich jetzt auf den Weg machte, wäre er zwar einige Minuten zu früh, aber das würde ihm ersparen, weiter wie ein gefangenes Tier auf und ab zu laufen.
Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihn auf Melina Lindahl vorbereitet. Sie war die reine Unschuld. Oder gab es vor zu sein. In dem Moment, als sie sein Land betreten hatte, hätte er die Verlobung lösen müssen. Sie war nichts für ihn. Aber sie war schön, und er war schon immer ein Narr gewesen, wenn es um schöne Frauen ging. Also hatte er nichts getan. Innerlich lachte er über sich selbst.
Er war entschlossen gewesen, ihr vor dem Abendessen deutlich zu machen, dass sie eine – wenn auch herzliche – Zweckehe führen würden. Er hatte klar machen wollen, dass jeder von ihnen sein eigenes Leben führen sollte: den Kontakt auf ein Minimum beschränkt. Er würde ihr monatlich einen gewissen Betrag zur Verfügung stellen – wie hoch, wollte er erst entscheiden, wenn er ihre genaue Mitgift kannte. Auf jeden Fall sollte es ausreichen, um ihr ein Leben im Luxus zu erlauben.
Und dann war sie in die Bibliothek gestürmt, hatte seine Hand auf ihren Busen gelegt und ihm war es schwergefallen, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte ihren sanften Herzschlag gespürt, das weiche Fleisch, ihre Wärme … und es hatte all seine Willenskraft gekostet, sie nicht in seine Arme zu schließen. Das von ihr gewählte Kleid hatte die Situation nicht verbessert. Es war so weit ausgeschnitten, dass seine Fingerspitzen ihr Dekolleté berührt hatten. Der Kontrast zwischen ihrer warmen Haut und dem kühlen Goldschmuck hatten ihn erregt … Er schüttelte sich, weil ihm die Richtung seiner Gedanken nicht gefiel. Dunkel erinnerte er sich daran, dass sie ihm ihr Beileid für den Tod seines Vaters ausgesprochen hatte. Aber er war sich nicht sicher gewesen. Vielleicht hatte sie auch etwas anderes sagen wollen.
Als er sich endlich wieder so weit unter Kontrolle gehabt hatte, dass er sich traute, sie anzusehen, wünschte er, er hätte es nicht getan. Sie hatte ihn angeblickt, als wäre er der Held einer Sage. Und tatsächlich hatte sie im nächsten Moment von Sagen gesprochen und ihn eingeladen, sich mit ihm zu treffen. Allein. Er schluckte hart. Natürlich hätte er ablehnen müssen. Doch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, waren Worte der Zustimmung über seine Lippen gekommen.
Seit diesem Moment konnte er an nichts anderes denken, als sie bei Sonnenuntergang im Glanz der bunten Fenster zu sehen. Er kannte die tiefere Bedeutung der Fenster nicht, aber ihre leuchtenden Muster bei Sonnenuntergang hatten ihn schon immer fasziniert.
Bei dem Gedanken, wie er ihr einen Vortrag über seinen Tagesablauf gehalten hatte, verzog er das Gesicht. Sie musste ihn für den größten Langweiler aller Zeiten halten. Ihm war auch klar, dass er vergessen hatte, zu erwähnen, wie ihre Ehe ablaufen würde. »Später«, hatte er sich gesagt. Jetzt wollte er erst einmal diesen unschuldigen, treuen Ausdruck in ihren Augen genießen. Auch wenn Romantik nicht echt war, gab es einen Teil in ihm, der sich danach sehnte. Er hatte akzeptiert, dass er dafür anfällig war. Aber so lange er sich immer wieder bewusst machte, dass Frauen diesen Blick stundenlang vor dem Spiegel übten, war er dagegen gefeit.
Wer weiß, wozu er sich hätte hinreißen lassen, wenn sie noch länger allein in der Bibliothek geblieben wären. Daher war er kurzerhand an ihr vorbei ins Speisezimmer gestürmt. Die Höflichkeit hätte es geboten, ihr den Arm zu reichen. Aber bei den Göttern, das hätte bedeutet, sie berühren zu müssen und dazu sah er sich außerstande.
Seine Unhöflichkeit schien sie wenig zu beeindrucken. Sie hatte das ganze Dinner über von ihrer Heimat erzählt, und er hatte sich ausgemalt, wie ihr rotes Kleid im Flammenmeer der Fenster lodern würde. Würde sie es später tragen? Würde sie noch einmal seine Hand auf ihre Brust legen? Diesmal könnte er nicht widerstehen. Diesmal würde er sie an sich ziehen und …
Das Knarzen einer Tür riss ihn aus den Gedanken. Er erhaschte einen Blick auf ihre zarte Gestalt und ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. Auch sie war vor der abgemachten Zeit erschienen, das wertete er als gutes Zeichen.
Zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit trat Melina vor ihr Zimmer. Sie hatte keine Lust mehr, sich die Ermahnungen ihrer Amme anzuhören. Sie wusste selbst, dass sie zu viel redete. Aber immer, wenn sie nervös war, redete sie. Oder plapperte, wie Frida zu sagen pflegte.
So war es auch gekommen, dass David das ganze Abendessen über kaum ein Dutzend Worte gesagt hatte. Sie hingegen hatte von zu Hause erzählt, von ihrem Landgut, der Umgebung und dem Wetter. Er hatte hin und wieder genickt, ein ›Aha‹ oder ›Mhm‹ eingestreut und sie ansonsten nicht beachtet.
Würde er überhaupt kommen? Oder hatte sie ihn schon am ersten Abend vergrault? Sollte sie …
»Wie schön, Euch jetzt schon anzutreffen, Melina!« Lächelnd kam er auf sie zu, ergriff ihre Hand und hob sie an seine Lippen.
Federleicht streiften sie ihren Handrücken. Er senkte sie wieder, gab ihre Finger jedoch nicht frei. Melinas Herz machte einen kleinen Sprung. Für einen Moment hatte sie den jungen Mann auf dem Bild erkannt. Jetzt blickte der unnahbare Herzog sie wieder an und ließ ihre Hand los, als hätte er sich verbrannt.
»Sollen wir gehen?« Er deutete auf das Ende des Ganges. »Wir sollten am Fenster warten, dann verpassen wir das Schauspiel nicht.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er voraus.
Was war nur los mit diesem Mann? Warum benahm er sich so widersprüchlich? Sie hatte sich doch nicht eingebildet, dass er ihre Hand länger als nötig gehalten hatte. Warum marschierte er davon, als könnte er nicht schnell genug von ihr wegkommen? Sie beschloss, ihn einfach danach zu fragen. Ihrer Erfahrung nach war das der schnellste Weg, um zu erfahren, was einen anderen Menschen bewegte.
»David?«
Er hatte das Fenster erreicht und drehte sich zu ihr um. Mit gehobenen Brauen sah er sie an.
Melina nahm all ihren Mut zusammen. »David, habe ich etwas falsch gemacht?«
»Wie kommt Ihr denn darauf?«
»Nun …« Sie räusperte sich und zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Jedes Mal, wenn wir uns begegnen, seid Ihr für einen Moment sehr aufmerksam und freundlich. Aber bereits nach wenigen Augenblicken scheine ich Euren Unmut zu erregen. Wenn Ihr mir sagt, womit, könnte ich …«
»Ihr macht nichts falsch, Melina!« Er überwand die wenigen Schritte, die sie trennten und ergriff ihre Hände. »Ich muss mich entschuldigen! Es ist … Ich bin mit meinen Gedanken woanders. Verzeiht. Es wird nicht wieder vorkommen.« Lächelnd hauchte er einen weiteren Kuss auf ihren Handrücken.
»Der Tod Eures Vaters muss Euch sehr in Mitleidenschaft gezogen haben. Ich wollte nicht unhöflich erscheinen, und hätte ich gewusst …«
»Ihr konntet es nicht wissen.«
Der Klang seiner Stimme jagte kleine Schauder durch ihren Körper. Fast war sie froh, als er ihre Hand frei gab. Doch seine Augen hielten sie gefangen. Sie zeigten den gleichen Ausdruck, wie früher am Abend in der Bibliothek. Wenn es nicht Zorn war, was war es dann?
In diesem Moment streiften die ersten Sonnenstrahlen das Fenster und blendeten sie. Melina blinzelte und trat einige Schritte zurück. »Ihr müsst hierher zu mir kommen! Dann kann ich Euch die Geschichte erzählen.«
Gehorsam stellte er sich neben sie, wandte den Blick aber nicht einen Moment ab.
»Was Ihr hier sehen könnt«, sie deutete auf die Linien, die sich auf dem hellen Boden abzeichneten, »ist die Nordküste Fjördurs. Hier seht Ihr die Burg Kängar und hier die Insel Solkur.« Melina ging in die Knie, um die Orte besser zeigen zu können. »Fraja war die Prinzessin von Kängar und Londir der Prinz von Solkur.«
Für einen Moment sah es so aus, als würden die Gestalten eines Mannes und einer Frau an den beiden Punkten erscheinen. »Das Volk von Kängar verachtete die dunkelhäutigen Menschen aus Solkur.« Zwei gekreuzte Schwerter erschienen. »Sie wollten ihre Insel erobern und deren Reichtum für sich beanspruchen.« Der bisherige rote Schimmer des Fensters wandelte sich in gleißendes Gold und verblasste dann.
»Kommt, wir müssen zum nächsten Fenster!« Sie ergriff Davids Hand und zog ihn durch den Flur. Wenige Sekunden nach ihrer Ankunft, begann auch hier das Farbenspiel.
»Fraja und Londir hatten sich beim letzten Versuch, Frieden zu schaffen, unsterblich ineinander verliebt.« Die Umrisse eines küssenden Paares erschienen. »Doch natürlich erlaubten ihre Eltern diese Verbindung nicht.« Das Bild des Paares zerbarst. »Das wollten die Liebenden nicht hinnehmen und heirateten heimlich. Ein alter Einsiedler traute sie und prophezeite, dass sie ihr Glück finden würden, wenn ihre Liebe stark genug sei. Die beiden verbrachten eine einzige Nacht miteinander und mussten sich dann wieder trennen.« Noch einmal erschien das Bild des Paares und zerbarst.
Wieder griff Melina nach David. Als sie das dritte Fenster erreichten, erwachte auf dem Boden die Geschichte von Fraja und Londir zum Leben.
»Jeden Abend, wenn die Dämmerung hereinbrach, konnten Fraja und Londir mithilfe eines magischen Spiegels für wenige Minuten kommunizieren.« Ein heller Strahl verband kurz die Küstenlinien und verblasste dann. »Wenige Wochen nach der Hochzeit, war klar, dass Fraja ein Kind erwartete. Weder sie noch Londir wussten Rat. In ihrer Verzweiflung wandte sich Fraja an den alten Einsiedler.« Sie deutete auf die neuen Linien, die das Gesicht des Alten zeigten. »Wie sich herausstellte, war er ein Skjörlund, der für das unglückliche Paar sein magisches Reich verlassen hatte. Er lenkte das Licht der Abenddämmerung so, dass die beiden Kontakt miteinander aufnehmen konnten. Er hatte erkannt, dass ihre Liebe stark genug war, um sogar die Trennung zu überleben. Also bot er ihnen an, im Reich der Skjörlund zu leben und dort ihr Kind großzuziehen.«
Jetzt sah man das Bild einer Familie, das sich auflöste und in tausend Farben zersprang. Melina deutete auf die Linien. »Fraja und Londir folgten ihm und zogen ihren Sohn Tordir gemeinsam auf. Jahre später kehrte dieser in unsere Welt zurück und wurde der erste König von Fjördur.«
Inzwischen war es dunkel geworden. Melina hielt immer noch Davids Hand und blickte lächelnd zu ihm auf. Im Halbdunkel konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen, aber sie meinte ein Schmunzeln darauf zu sehen. Zu ihrer Überraschung hob er ihre Hand und drückte einen zärtlichen Kuss darauf. Kein Hauch einer Berührung diesmal, sondern einen echten Kuss.
Melinas Herzschlag flatterte, und sie schloss die Augen. Ein seltsam warmes Prickeln wanderte von ihrem Handrücken, bis zu ihrem Herzen. Dort schien es aufzublühen und löste Empfindungen aus, von denen sie bisher nur gelesen hatte. Das musste Begehren sein! Wenn sein einfacher Kuss auf ihren Handrücken so etwas mit ihr machte, was musste dann erst …?
Bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, spürte sie Davids Finger an ihrer Taille. Sanft zog er sie an sich. Langsam öffnete sie die Augen wieder und sah sich seinem Gesicht gegenüber. Wann hatte er sich zu ihr herabgebeugt? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie in seinen Augen das gleiche Verlangen sah, das in ihr brannte. Das war der Gesichtsausdruck, den sie nicht hatte einordnen können. Kaum merkbar nickte sie, wie um seine stumme Frage zu beantworten.
Er zögerte kurz und senkte dann seine Lippen auf ihre. Er berührte sie kaum, doch sie konnte nicht mehr klar denken, nicht mehr atmen. Federleicht streifte sein Atem ihren Mund. Bei jeder Berührung sank sie ein wenig fester in sein Arme. Dann, ohne Vorwarnung, strich seine Zungenspitze über ihre Zähne.
Nichts hatte sie auf dieses Gefühl vorbereitet! Natürlich hatten vor ihm schon andere Männer versucht, sie zu küssen. Zwei, um genau zu sein. Sie hatte diese Versuche jedoch eher als lästig empfunden. Etwas Unangenehmes, vor dem man weglief. Im Augenblick wollte sie jedoch das Gegenteil von Weglaufen. Sie hob ihren freien Arm, schlang ihn um seinen Nacken und vergrub ihre Hand in seinem Haar.
Kurz überkam sie Panik. Seine Zunge befand sich in ihrem Mund! Doch es war ein angenehmes Gefühl. Vorsichtig ließ sie ihre eigene Zunge über seine streichen und wurde mit einem Grollen tief aus Davids Kehle belohnt. Irgendwo in ihrem Kopf war eine Stimme, die sagte, dass sie diesen Kuss unterbrechen sollte. Bevor Dinge geschahen, die erst in ihrer Hochzeitsnacht geschehen durften. Aber sie würde David ja sowieso bald heiraten. Was konnte es also schaden, wenn sie schon ein wenig von dem kostete, was sie erwartete?
»Wir sollten das nicht tun, Melina«, murmelte er, ohne den Kuss zu unterbrechen. »Sag mir, dass ich aufhören soll! So lange ich es noch kann.«
Mit einem Mal war alle Leidenschaft wie weggeblasen. So lange er es noch konnte … Ihre Mutter hatte sie gewarnt: Es gab Männer, die ab einem gewissen Punkt ihre Triebe nicht mehr unter Kontrolle hatten. Sie hatte gesagt, Melina solle Erfahrungen sammeln, aber immer darauf achten, diesen Punkt nie zu überschreiten. Nicht vor der Hochzeitsnacht. Das hier schien solch eine Situation zu sein.
Widerstrebend löste sie sich von ihm und legte beide Hände auf seine Brust. »Ihr solltet mich besser loslassen.« Sie traute sich nicht, zu ihm aufzusehen. Stattdessen fixierte sie das Revers seines Jacketts und drückte ihn noch ein wenig fester von sich weg.
Eben noch spürte sie seinen kräftigen Herzschlag unter ihren Handflächen und nun taumelte sie leicht zurück, weil er sie freigab. Sie fing sich und strich fahrig die Falten ihres Kleides glatt.
»Es spricht nichts gegen ein wenig Zweisamkeit vor der Hochzeit, aber wir sollten gewisse Regeln des Anstands …«
Sein leises Lachen unterbrach sie. »Anstand, ja?« Er zog sich ein paar Schritte zurück. Jetzt konnte sie nur noch seine Silhouette im Gang erkennen. »Wenn du das Spiel auf diese Art spielen willst, bin ich dabei.« Er lachte noch immer. Ein tiefes Timbre, dass ihr eine Gänsehaut verursachte. Mit einer spöttischen Verbeugung drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Am nächsten Morgen erschien David nicht zum Frühstück. Ein Diener – nein, Sklave, rief sie sich ins Gedächtnis – erschien und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie bat höflich um Kaffee, Gerstenbrei und Obst. Der Mann verzog keine Miene, nickte und verschwand.
Neugierig sah sich Melina um. Der Frühstücksraum war in hellen Farben gehalten. Wände, Teppiche und Vorhänge wiesen alle das gleiche Blumenmuster in Hellgrün auf. Für Melinas Geschmack war das etwas zu viel des Guten. Zusammen mit den weißen Möbeln wirkte der Raum alles andere als behaglich.
Da konnte sie von Glück reden, dass ihr Zimmer mehr nach ihrem Geschmack war. Dort herrschten dunkle, gedeckte Töne vor. Rot und braun, verliehen ihm fast ein Gefühl von Heimat. Der junge Sklave tauchte mit den gewünschten Speisen wieder auf. Auch deren Duft bedeutete Heimat!
»Ihr wisst, dass wir alles zubereiten können, was Ihr wünscht, meine Dame?«, fragte er, als er alles vor ihr arrangiert hatte. »Es ist nicht weise, das Sklavenfrühstück zu essen.«
Überrascht blickte Melina dem jungen Mann in die Augen. Auch er schien ein Uyatohalbblut zu sein. Sie erkannte sein Erbe ausschließlich an den golden schimmernden Augen. Wären sie nicht gewesen, hätte man ihn für einen durchschnittlichen Zadurer halten können.
»Wieso Sklavenfrühstück? Ich liebe Gerstenbrei und Obst. Das esse ich jeden Morgen, seit ich denken kann.«
Der Sklave nickte. »Ich möchte mir nicht anmaßen, Euch Vorschläge zu machen, meine Dame, aber …« Er zögerte kurz. Sein Blick fiel auf den Verdestin um ihren Hals. »Ihr solltet etwas anderes essen, wenn Seine oder Ihre Gnaden anwesend sind. Das wird Euch unnötigen Ärger ersparen.« Er sah ihr immer noch nicht ins Gesicht, sondern hielt den Blick auf den Stein gerichtet.
»Und was sollte ich stattdessen frühstücken?«
»Eierkuchen vielleicht? Gebratenen Schinken? Kuchen oder Törtchen mit Marmelade.«
Melina zog die Nase kraus. »Dann Eierkuchen mit Obst? Aber Kaffee ist angemessen?«
»Exzentrisch. Aber Seine Gnaden trinkt ihn manchmal, wenn er am Abend vorher noch lange trainiert hat. Also sollte das gehen.«
»Seine Gnaden trainiert? Was macht er denn?« Bei der Erwähnung von David breitete sich sofort eine angenehme Wärme in Melina aus. Vielleicht war das eine Chance, mehr über ihn herauszufinden. Sie wusste natürlich, dass es von schlechter Kinderstube zeugte, wenn sie die Bediensteten ausfragte. Andererseits, wenn sich die Gelegenheit bot … Auffordernd lächelte sie den jungen Mann an.
»Ukyu, meine Dame.«
Melina stieß einen überraschten Laut aus. »Ukyu? David?« Was brachte einen Sklavenhalter dazu, die Kampfkunst seiner Leibeigenen zu erlernen? Der Mann nickte stumm.
»Vielen Dank, äh, wie heißt du?«
»James, meine Dame.« Er verbeugte sich.
»Gibt es noch etwas, worauf ich beim Essen achten sollte, James?«
»Die restlichen Mahlzeiten werden für alle Herrschaften gleich hergerichtet. Da kann nichts passieren.«
»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.« Dankbar legte Melina die Hand auf James’ Arm.
Sein Blick glitt von der Hand zu ihrem Gesicht. Dann löste er vorsichtig ihre Finger und schob sie herunter. »Niemand würde jemals einen Sklaven berühren. Das gilt als sehr unfein. Ihr würdet ja auch nicht im Dreck wühlen.«
Spontan fragte sich Melina, wie es zu den ganzen Halbuyato gekommen war, wenn Zadurer grundsätzlich keine Uyatos berührten?
»Diese Frage stellt sich jeder von uns«, sagte James mit einem Augenzwinkern. Er verbeugte sich noch einmal. »Neÿ mÿan Naðul.« Und wie die beiden Sklaven am Tag zuvor, berührte er mit der Faust seine Brust, dann die Stirn und verschwand rückwärts durch die Tür.
Stirnrunzelnd aß sie ihr Frühstück und dachte über das eben Gehörte nach. David wurde ihr mit jeder Minute rätselhafter. Sie hatte noch nie gehört, dass ein Ukyulehrer einen Nicht-Uyato als Schüler hätte. Sie selbst wollte als Kind die Kampfkunst ihrer Vorfahren lernen. Man hatte mit der Begründung abgelehnt, dass sie nicht reinblütig sei. Vielleicht zwang David den Mann? Schließlich war er Davids Besitz. Allerdings war sie sicher, dass die beiden Lehrer, die sie kannte, eher den Tod gewählt hätten, als einen Außenstehenden zu unterrichten. Und wie funktionierte das Training, wenn sich die beiden nicht berühren durften?
Zumindest wusste sie jetzt, warum Hopkins gestern so entsetzt auf ihre Berührung reagiert hatte. Nun gut, daran konnte sie nichts mehr ändern. Nach diesem Gespräch war sie beinahe froh, dass heute Morgen niemand sonst zum Frühstück erschien. Sie hatte eine Menge gelernt und würde morgen nicht noch einmal ›Sklavenfrühstück‹ bestellen. Auch wenn sie ihren Brei vermissen würde.
Das Mittagessen hatte sie ebenfalls allein eingenommen. James hatte serviert, aber nicht mehr als nötig mit ihr gesprochen. Vielleicht war es besser so. Inzwischen war ihr klar, dass es Probleme verursachen würde, wenn sie auf zu gutem Fuß mit den Sklaven stand.
Den Rest der Zeit bis zu ihrer Verabredung mit der Herzoginmutter, wanderte sie durch das Haus und staunte über die Vielzahl der Räume. Nur ein Bruchteil von ihnen schien bewohnt zu sein. Die meisten waren zwar voll möbliert, aber mit weißen Tüchern abgedeckt. Das gab den Räumen eine leicht gespenstische Aura. Aber es passte zu diesem Haus, das sicher mindestens zweihundert Jahre alt war. Melina fiel auf, dass der Zustand der Zimmer schlechter wurde, je mehr sie sich von den bewohnten Räumen entfernte. Hingen in den vorderen Zimmern noch Vorhänge an den Fenstern und Himmelbetten oder Bilder an den Wänden, so war der Raum, in dem sie jetzt stand, fast leer.
Da schienen ein Bett, ein Tisch und ein Sessel abgedeckt zu sein. Die Farbe der Tapete war wohl früher einmal leuchtend blau gewesen, aber jetzt hatte man Schwierigkeiten sich die einstige Pracht vorzustellen. Melina überlegte gerade, wem dieses Zimmer wohl gehört haben könnte, als sie eine Uhr viermal schlagen hörte. Sie würde zu spät zu ihrer Verabredung kommen! So schnell sie konnte, begab sie sich in den Ostflügel und klopfte am Salon. Sie war ein wenig stolz darauf, dass sie sich den Weg gemerkt hatte, den ihr Hopkins früher am Tag gezeigt hatte. Außerdem konnte sie nur vier oder fünf Minuten zu spät zu sein. Blieb zu hoffen, dass die Herzoginmutter es mit der Pünktlichkeit nicht ganz so genau nahm, wie ihr Sohn.
Das arrogante »Herein«, ließ jedoch nichts Gutes erahnen.
Die Frau sah genauso aus, wie auf dem Familienporträt. Unheimlich schön und unheimlich abweisend. Die Kälte in ihren grünen Augen übertraf sogar noch die des Porträts. »Ihr seid sechs Minuten zu spät!« Die Eisaugen musterten sie geringschätzig von oben bis unten und blieben dann auf Melinas Wangenknochen hängen. »Hattet Ihr keine Zeit, Euch herzurichten? Oder ist das Eure Art, mir zu zeigen, wer hier bald die Herrin sein wird?«
»Nichts von beidem, Euer Gnaden!« Melina wich einen Schritt zurück. »Ich habe mir das Schloss angesehen und dabei die Zeit vergessen.« Sie blickte an sich hinunter und sah die Staub- und Schmutzflecken auf ihrem hellen Kleid. Auch ihre Hände waren alles andere als sauber. »Vielleicht sollte ich mich ein wenig frisch machen und dann noch einmal …«
»Nein, nein!«, unterbrach die ältere Frau sie. »Macht Euch wegen mir keine Umstände! Ich bin nur eine einsame, alte Witwe, die mit der Gesellschaft vorliebnehmen muss, die sich ihr bietet.«
Melina verschlug es zum ersten Mal in ihrem Leben die Sprache. Was sollte sie darauf antworten? »Äh«, war alles, was sie herausbekam. Stattdessen warf sie einen unauffälligen Blick in den Salon der Herzoginmutter. Hier war alles darauf ausgelegt zu imponieren und zu repräsentieren. Die Herzogin selbst saß auf einem thronähnlichen Sessel in der Mitte des Raums. Hinter ihr das große Fenster, das den Blick auf den Urwald in der Ferne freigab. Alles war farblich genau aufeinander abgestimmt. Gold, Royalblau und Cremeweiß fand sich überall vom Teppich bis zu den Bezügen der filigranen Sessel, die wohl für Besucher gedacht waren.
»Ihr werdet mir nachsehen, dass ich Euch keinen Platz anbiete. Die Flecken würde man nie wieder aus der Seide …«
Das war der Moment, in dem Melina beschloss, zu gehen. Höflichkeit hin oder her, das musste sie sich nicht gefallen lassen. Auch nicht von ihrer zukünftigen Schwiegermutter.
»Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber ich sehe mich außerstande, noch länger zu verweilen.« Schwungvoll drehte sie sich um und verließ mit hoch erhobenem Kopf den Raum. Es gelang ihr gerade noch, einen Lachanfall so lange zu unterdrücken, bis sie einige Meter Abstand zwischen sich und die Räume der Herzoginmutter gebracht hatte.
Immer noch lachend betrat sie ihr Schlafzimmer und fand sich neben Frida noch einer anderen Frau gegenüber.
»Ah, da bist du ja, Kind!«, begrüßte ihre Amme sie lächelnd, nur um im nächsten Moment tadelnd das Gesicht zu verziehen. »Warst du so bei deiner zukünftigen Schwiegermutter?«
Melina nickte und kicherte schon wieder. »Sie war nicht sehr begeistert. Und total unhöflich. Also bin ich gegangen.«
»Gegangen?« Kopfschüttelnd zeigte sie auf die andere Frau. »Das ist Amalie, deine neue Zofe. Sie wird dir helfen, dich umzukleiden und fürs Dinner herzurichten. In diesem Zustand kannst du deinem Verlobten unmöglich unter die Augen treten!«
»Wenn er denn kommt. Er hat sich weder beim Frühstück, noch zum Mittagessen blicken lassen. Und das nach den Freiheiten, die er sich gestern Abend herausgenommen hat!« Fridas warnendes Kopfschütteln ließ Melina verstummen und sie betrachtete ihre neue Zofe genauer. Diese war nur wenig größer als Melina und schien, wie alle Hausangestellten, eine Halbuyato zu sein. Ein paar grüne Strähnen zogen sich durch ihr Haar.
»Ich bin Melina.« Sie lächelte die Sklavin an, biss sich aber gleich darauf in die Unterlippe. »Wie kannst du beim Ankleiden und Frisieren helfen, ohne jemanden zu berühren?«
»Handschuhe, meine Dame!« Amalie hob ihre Hände, die tatsächlich in einem paar feiner Handschuhe steckten. »Sie erlauben mir, meinen Pflichten nachzukommen, ohne Euch mit meiner Berührung zu beschmutzen.«
»Aber damit hat man doch überhaupt kein Gefühl in den Händen. Das mit dem nicht Anfassen ist die blödsinnigste Regel, von der ich je gehört habe!« Melina schnaubte.
»Nur die Geschicktesten unter uns, haben die Ehre, Zofe zu werden, meine Dame. Darf ich Euch beim Auskleiden behilflich sein?« Sie wartete Melinas Antwort nicht ab und machte sich sofort an den Rückenverschlüssen zu schaffen.
»Gebt mir das Kleid«, sagte Frida in geschäftigem Tonfall. »Ich werde sehen, ob man es noch retten kann.« Sie legte es sich über den Arm und verließ mit den Worten »Ein Bad in heißem Wasser ist es, was du brauchst!« das Zimmer.
Seufzend ließ sich Melina auf den Stuhl vor ihrem Spiegel fallen und kicherte erneut, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Ein ziemlich großer Schmutzstreifen zog sich über ihre rechte Wange. Das erklärte zumindest, warum der Blick der Herzoginmutter daran hängen geblieben war. »Ich bin wohl nicht gerade eine Vorzeigeschwiegertochter, nicht wahr?«, murmelte sie und öffnete den Verschluss ihrer Halskette.
»Darüber habe ich keine Meinung, meine Dame.«
Natürlich nicht! Melina schalt sich dafür, vergessen zu haben, dass sie Amalie nicht kannte. Zu Hause auf Frosthorn waren die Bediensteten Freunde, sie gehörten fast zur Familie. Und das bisherige Verhalten der hiesigen Diener hatte ihr auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt. Aber natürlich war sie weit davon entfernt, einen von ihnen Freund nennen zu dürfen.
Unter gesenkten Lidern beobachtete sie Amalie, die dabei war, ein Kleid fürs Dinner auf dem Bett auszubreiten.
Die Zofe war anders als die Männer, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte. Hopkins schien höflich reserviert, James sehr freundlich und die beiden, die ihr Gepäck gebracht hatten, sogar ehrfürchtig. Sie schienen alle auf den Verdestin reagiert zu haben. Amalie nicht. Melina war sich sicher, dass die Zofe ihn gesehen hatte. Vielleicht hatten sich ihre Augen für einen kleinen Moment geweitet, als Melina ihn abgelegt hatte. Aber sie konnte sich auch täuschen.
So lange sie nicht wusste, was es mit dem Stein auf sich hatte, sollte sie ihn vielleicht nicht mehr tragen. Den Uyato hier schien er etwas zu bedeuten. Drei Männer hatten ihr versichert, dass sie nichts verraten würden. Sie musste herausfinden, was es mit dem Verdestin auf sich hatte.
Die Worte ihres Vaters kamen ihr in den Sinn. »Melina, du bist immer bereit an das Gute im Menschen zu glauben. Aber sei in Zadura bitte vorsichtig! Pass auf, wem du vertraust!«
Sie musste zugeben, dass sie möglicherweise ein wenig zu unbedarft gewesen war. Bereits nach einem Tag in Noen Manor war klar, dass vieles hier anders lief als zu Hause. Zu Hause – bei diesen Worten zog sich ihr Herz zusammen. Dort war alles so viel einfacher gewesen. Niemand, der ihr Vorschriften machte, nichts, was sie verstecken musste. Und kein Mann, der ihren Herzschlag beschleunigte und ihre Gefühlswelt durcheinanderwirbelte!
Für einen Moment hatte sie gestern Abend geglaubt, dass zwischen ihr und David eine besondere Verbindung bestand. Bis er sie einfach im Flur hatte stehen lassen und seitdem verschwunden blieb.
Und was hatte seine merkwürdige Bemerkung zu bedeuten? Wenn sie das Spiel so spielen wollte? Welches Spiel? Sie spielte nicht. Sie war verwirrt.
»Wenn ich bitten dürfte, Herrin? Euer Bad ist bereit.«
Melina schreckte aus ihren Gedanken hoch. Es war ihr völlig entgangen, dass man eine große Wanne ins Zimmer gebracht und befüllt hatte.
»Ich bin nicht deine Herrin, Amalie!«, sagte sie herrischer als beabsichtigt.
»Aber Ihr werdet es bald sein. Wenn Ihr Seine Gnaden geheiratet habt, seid Ihr meine Herrin und könnt nach Belieben über mich verfügen.«
Warum hatte Melina das Gefühl, dass ihre neue Zofe sie nicht besonders mochte? Was hatte sie ihr getan? Lag es an diesem merkwürdigen Land? Waren alle Menschen hier entweder unfreundlich oder merkwürdig? Oder beides?
Mit schnellen Bewegungen entledigte sie sich ihrer Unterwäsche und sank ins lauwarme Wasser. Sie musste zugeben, dass das bei den Temperaturen, die in Zadura herrschten, weitaus angenehmer war als heißes Wasser. Ihr Blick glitt zur Uhr. Noch drei Stunden bis zum Abendessen. Das sollte reichen, um sich auch die Haare zu waschen. Also tauchte sie unter. Mit offenen Augen beobachtete sie die Lichtspiele an der Zimmerdecke. Aus den Augenwinkeln konnte sie Amalie erkennen.
Mit einem Ruck tauchte sie wieder auf und sah zu ihr hinüber. Die Zofe lächelte sie betont freundlich an und fragte, ob sie ihr die Seife reichen solle.
Blinzelnd nickte Melina. Sie hätte schwören können, dass die Frau sie eben hasserfüllt angestarrt hatte. Vielleicht war es nur die Verzerrung durch das Wasser gewesen? Welchen Grund sollte die Zofe haben, Melina zu hassen?
Bis zum Dinner achtete Melina sehr genau auf Amalies Mimik, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Sie musste sich getäuscht haben.
Für diesen Abend wählte sie ein grünes Kleid. Es ließ eine Schulter frei und fiel in vielen kleinen Falten über die andere hinab. Zwei schmale goldene Gürtel brachten es auf Figur. Eigentlich wollte sie den Verdestin dazu tragen, doch ihre Überlegungen früher am Abend hielten sie davon ab. Stattdessen wählte sie einen einfachen Goldreif.
»Nicht den Verdestin, Herrin? Er würde wunderbar mit dem Kleid harmonieren.«
War Amalies Stimme eine Spur zu freundlich? Wusste sie, was der Verdestin war? Oder bildete sie sich das ein? »Nein. Der Goldreif passt besser zum Gürtel. Vielen Dank, Amalie. Ich denke nicht, dass ich dich heute noch brauche. Dieses Kleid kann ich später auch allein ausziehen.«
»Ganz wie Ihr befehlt, Herrin!« Die Zofe verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Melina atmete mehrmals tief durch. Zum einen, weil sie froh war, die Zofe los zu sein, zum anderen, weil sie gleich David begegnen würde. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihn zu fragen, was er mit ›Spiel‹ gemeint hatte. Und ihm deutlich zu machen, dass diese Verlobung für sie alles andere als ein Spiel war!
Zehn Minuten später betrat sie das Speisezimmer. Zu ihrer Überraschung traf sie David in Gesellschaft eines anderen Mannes an. Genauso groß wie ihr Verlobter, war er in allen anderen Dingen das genaue Gegenteil. Er schien ein paar Jahre älter. Dunkle, kurze Haare betonten sein markantes Gesicht. Ein herrischer Zug um den Mund und ein breites Kinn verstärkten die Härte noch, die dieser Mann ausstrahlte. Am schlimmsten waren seine Augen. Völlig kalt und gefühllos.
Melina, du musst dir abgewöhnen, die Menschen hier immer nach ihren Augen zu beurteilen! Sie schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Das hatte sie doch früher auch nicht getan. Also lächelte sie und trat zu den Männern.
»Melina! Wie ich sehe, seid Ihr pünktlich!« David trat auf sie zu und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken.
Sie sah nach unten und vermied den Blickkontakt. Keine Augen, Melina! »Ihr habt darauf hingewiesen, dass Ihr Pünktlichkeit zu schätzen wisst. Ich gebe mein Bestes, um Euren Vorlieben gerecht zu werden.«
»Gute Voraussetzungen für eine Ehe, würde ich meinen!« Die Stimme des Fremden war genauso kalt wie sein Blick.
»Darf ich vorstellen: Conner Pelham, Markgraf zu Wyndham, Freiherrin Melina Lindahl zu Frosthorn, meine Verlobte, wie du ja schon so treffend festgestellt hast.«
Der Markgraf verbeugte sich knapp, nahm Melinas Hand und hauchte ebenfalls einen Kuss darauf.
Es kostete Melina alle Willenskraft, die Hand nicht wegzuziehen. Die Berührung dieses Mannes ließ ihr die Haare zu Berge stehen. »Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen«, brachte sie mühsam hervor.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Melina. Ich darf Euch doch Melina nennen, oder? Schließlich sind David und ich wie Brüder! Wir teilen alles miteinander.« Sein raubtierhaftes Lächeln ließ Melina erneut erschaudern.
»Selbstverständlich«, antwortete sie tapfer und blickte Hilfe suchend zu David.
Der schien ihr Unbehagen jedoch nicht zu bemerken, sondern deutete fröhlich zum Tisch. »Ich habe mir die Freiheit genommen, die Teller links und rechts neben meinem anordnen zu lassen.« Er legte eine Hand auf Melinas Rücken und führte sie zu ihrem Platz. Nachdem er den Stuhl zurechtgerückt hatte, setzte er sich ans Kopfende des Tisches. Der Markgraf nahm ihr gegenüber Platz.
Sie saßen kaum, als auch schon drei Sklaven mit der Suppe hereinkamen. Es beruhigte Melina ein wenig, dass es James war, der den Teller vor ihr abstellte. Die Sklaven nahmen an der Wand hinter Melina Aufstellung und David begann zu essen.
»Nun, David, wie weit bist du mit der Inspektion des Gutes?« Conner Pelham sah seinen Freund fragend an.
»Ich komme gut voran. Morgen nehme ich mir die Minen vor.«
Überrascht hob Melina den Kopf. »Hier gibt es Minen? Was wird denn gefördert?«
Die Blicke der beiden Männer riefen Melina ins Bewusstsein, dass ihr Benehmen gegen die Regeln des Anstands verstieß. In Zadura sprach eine Frau nicht, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Verlegen senkte sie den Blick und tauchte ihren Löffel in die Suppe.
»Gold«, kam die knappe Antwort von David. Dann wandte er sich wieder Markgraf Pelham zu. »Deine bisherige Einschätzung der Lage hat sich als völlig richtig erwiesen. Mein Vater hatte sehr extravagante Vorstellungen, was die Sklaverei betrifft. Stell dir vor, keines der Kinder unter zwölf arbeitet.«
Melina verschluckte sich und hustete unfein.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?« David beugte sich zu ihr und legte kurz eine Hand auf ihre.
»Alles in Ordnung«, krächzte sie. »Wenn ich vielleicht einen Schluck Wasser haben könnte?«
»Habt ihr die Dame nicht gehört?«, schnauzte der Markgraf die Sklaven an. »Nichtsnutziges Pack! Dein Vater war offensichtlich nicht nur den Feldsklaven gegenüber zu nachlässig! Du solltest wirklich die beiden Männer einstellen, die ich dir empfohlen habe, David. Sie werden dafür sorgen, dass dieser Uyatoabschaum Respekt lernt!«
Melina hätte James gern ein aufmunterndes Lächeln geschenkt, traute sich aber nicht. Der Markgraf von Wyndham gehörte offensichtlich zu den Sklavenhaltern, für die Uyato nicht mehr als Vieh waren. Bei dem Gedanken, er könnte jemals von ihrer Herkunft erfahren, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
»Ich entscheide mich, wenn ich die Inspektion abgeschlossen habe.« Damit schien für David das Thema erledigt. »Lass uns von etwas Erfreulicherem reden. Meine Schwester gibt in zwei Wochen eine kleine Gartenparty. Es ist Linus’ fünfter Geburtstag. Wir haben es nicht übers Herz gebracht, die Feier abzusagen. Vater hätte es sicher gutgeheißen! Melina und ich werden selbstverständlich dort sein. Wie sieht es mit dir aus, Conner?«
»Ja, Adellas Einladung hat mich bereits erreicht, und ich komme natürlich gern. Hat sich deine Schwester inzwischen zu ihren Zukunftsplänen geäußert?«
Melina hatte ihre Suppe inzwischen zu Ende gegessen und musste sich förmlich auf die Zunge beißen, um den Mund zu halten. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Menschen in diesem Land aus Prinzip unfreundlich waren. Normalerweise bezog man sie in ein Gespräch mit ein. Und David als ihr Verlobter und Hausherr sollte eigentlich dafür sorgen. Er schien jedoch beschlossen zu haben, dass sie Luft war. Nicht ein Wort oder auch nur ein Blick.
Zum Glück trat James gerade an sie heran und räumte ihren leeren Teller ab. Trotzig lächelte sie ihn an. »Vielen Dank, sehr aufmerksam.« Mal sehen, ob das eine Reaktion bei den Männern hervorrief. Provokant lächelnd sah sie zu David.
Und tatsächlich: Er musterte sie finster.
»Zehn Schläge wären angemessen«, sagte der Markgraf so beiläufig, dass ein kalter Schauder Melina durchlief.
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Aber ich …« Erst in diesem Moment ging ihr auf, dass Conner nicht sie, sondern James meinte. Ihr Blick huschte zu dem jungen Sklaven. Die Panik in seinen Augen ließ sie aufspringen. »Das kann unmöglich Euer Ernst sein! Er hat nichts Böses getan! David?«, wandte sie sich hilflos an ihren Verlobten. Sie hoffte, dass er auf ihrer Seite sein würde. »Ich wusste nicht, dass ich ihn nicht ansprechen darf!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Wir haben in Fjördur keine Sklaven!«
»Ich denke, wir können davon absehen, den Uyato allzu hart zu bestrafen.« David sah sie immer noch nicht an. »Eine Woche Feldarbeit sollte ihn lehren, wo sein Platz ist.«
»Nein! David, bitte! Lasst es gut sein. Mir zuliebe.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und blickte hoffnungsvoll zu ihm auf.
Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Nun gut. Seht es als mein Verlobungsgeschenk an.« Mit einer barschen Handbewegung bedeutete er den Sklaven, den Raum zu verlassen. Vorsichtig löste er Melinas Hand von seinem Arm. »Ich schlage vor, wir vergessen diese unschöne Szene einfach, Conner. Meine Verlobte ist mit den hiesigen Sitten nicht vertraut. Sie wird noch einiges lernen müssen, bevor ich sie in zwei Wochen der Öffentlichkeit präsentiere.«
Das war zu viel für Melina. Was sie bei seiner Mutter konnte, konnte sie bei ihm schon lange. »Ich bedauere, aber plötzlich plagen mich wahnsinnige Kopfschmerzen. Die Herren entschuldigen mich?«
David trat zu ihr. »Das ist äußerst bedauerlich. Soll ich Euch begleiten?«
War das sein Ernst? »Nein, bleibt bei Eurem Freund. Ich komme schon zurecht.«
»Ich fürchte, ich muss darauf bestehen. Wenn es Euch nicht gut geht, kann ich nicht verantworten, Euch allein durch Noen Manor laufen zu lassen. Du entschuldigst mich, Conner?«
»Natürlich!« Der Markgraf verneigte sich kurz in Melinas Richtung. »Ich wünsche Euch gute Besserung, meine Dame. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«
Hoffentlich nicht! Aber es gelang Melina zu lächeln und ein »Es wäre mir eine Freude« herauszubringen. Dann spürte sie wieder Davids Hand auf ihrem Rücken, mit der er sie sanft zur Tür drängte.
Auf dem Weg zur Treppe begegneten sie den Sklaven, die mit dem Essen kamen. James war nicht mehr unter ihnen. David gab den Männern Anweisungen, das Dinner erst in zehn Minuten aufzutragen und dem Markgrafen so lange einen Drink zu bringen. Die ganze Zeit hatte seine Hand dabei auf ihrem Rücken geruht. Jetzt lenkte er sie weiter Richtung Treppe.
»Wo ist James?« Die Worte waren heraus, bevor Melina es verhindern konnte. Verdammte Aufregung! »Er ist doch nicht bestraft worden, oder?« Ängstlich suchte sie Davids Blick. Die Sanftheit darin überraschte sie.
»Ich habe mein Wort gegeben. Ich habe ihn angewiesen, Conner heute Abend aus dem Weg zu gehen.«
»Ach ja? Wann das?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, das mitbekommen zu haben.
»Als ich ihn anwies, den Raum zu verlassen.« David wiederholte die Handbewegung, die er gemacht hatte, um die Sklaven aus dem Raum zu schicken. »Seht Ihr meine Finger?«
Und tatsächlich: Jetzt, wo er sie darauf hinwies, sah sie die schnellen Bewegungen. »Ihr beherrscht Kynma?«
Seine Brauen wanderten in die Höhe. »Ihr wisst, was das ist?«
»Die Geheimsprache der Ukyokämpfer!«
»Das ist richtig.« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem so atemberaubenden Lächeln, das Melinas Herzschlag beschleunigte.
»Versteht Ihr sie?«
Bildete sie sich das ein, oder bewegte sich seine Hand sanft ihren Rücken hinab? »Nein«, krächzte sie und räusperte sich. »Aber es wundert mich, dass Ihr sie beherrscht. Ich dachte immer, nur Uyato würden sie benutzen.«
Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Ich stecke voller Überraschungen, Melina.«
»Ich mag Überraschungen.« Ups! Wieder hatte sie schneller geredet, als gedacht. »Es tut mir leid, wenn ich mich manchmal ein wenig unzulänglich ausdrücke. Ich spreche zwar seit meinem vierten Lebensjahr zadurisch, aber es ist nicht meine Muttersprache, und ich hatte nur meinen Lehrer, um mich zu unterhalten. Und seit ich hier bin, weiß ich, dass seine Aussprache nicht immer korrekt war.«
David runzelte die Stirn. »Mir ist nicht aufgefallen, dass zadurisch nicht eure Muttersprache ist. Ihr sprecht einwandfrei.«
»Das ist sehr nett von Euch.« Sobald sie die Zimmertür erreichten, nahm David die Hand von ihrem Rücken.
»Danke, dass Ihr mich begleitet habt.« Sie traute sich nicht, ihn anzusehen. Zum einen, weil die Stelle an der seine Hand gelegen hatte, immer noch angenehm kribbelte. Zum anderen, weil sich das gleiche Gefühl einzustellen begann wie gestern Abend. Aber sie war nicht bereit, ihm sein Benehmen beim Essen zu verzeihen. Oder die Tatsache, dass er mit einem Mann wie Conner Pelham befreundet war. Oder dass er vorhatte, Kinder zur Arbeit zu zwingen.
Also trat sie in ihr Zimmer, nickte kurz in seine Richtung und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
*
Nichts war gelaufen, wie geplant. David fuhr sich über die Augen. Seine Worte darüber, sie nicht in der Öffentlichkeit präsentieren zu können, hatten sie gedemütigt. Er hatte sie in dem Moment bereut, als er ihren verletzten und gekränkten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Den würde er so schnell nicht vergessen.
Schon gestern Abend war ihm der Verdacht gekommen, dass Melina tatsächlich war, was sie vorgab zu sein: ein unschuldiges Mädchen. Oder die begnadetste Schauspielerin, die er je gesehen hatte. Ihre Küsse waren allerdings nicht die einer mit allen Wassern gewaschenen Verführerin. Sie waren so unschuldig. Er hätte schwören können, dass er der Erste war, der … Mit einem Aufseufzen schob er den Gedanken zur Seite. Der hielt ihn schon seit gestern Abend davon ab, irgendetwas Produktives zu erledigen.
Sie war keine Verführerin und gewiss nicht berechnend. Ihr plumper Versuch, durch ein Gespräch mit dem Sklaven seine Aufmerksamkeit zu erregen, zeigte das deutlich. Wenn sie tatsächlich die gewiefte Verführerin war, für die Conner sie hielt, hätte sie ein anderes Mittel gewählt, um ihn eifersüchtig zu machen. Mit Conner geflirtet zum Beispiel. Aber der schien ihr eher Unbehagen zu bereiten.
Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, Conner zum Abendessen einzuladen. David hatte sehen wollen, wie Melina auf seinen Freund reagierte. Die zadurische Frauenwelt lag ihm zu Füßen. Er hatte erwartet, dass sich auch Melina seinem Charme nicht würde entziehen können.
Aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Conners Härte, die so viele Frauen unwiderstehlich fanden, schien Melina eher abzustoßen. Außerdem schämte er sich ein bisschen, dass ihm nie in den Sinn gekommen war, dass sie sich mit ihm in einer ihr fremden Sprache unterhielt. Er selbst konnte nicht ein Wort in ihrer Sprache sprechen. Er hatte sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Vielleicht sollte er sich die Zeit nehmen und ein paar Worte fjördurisch lernen.
Er musste über sich selbst lachen. Wenn sie tatsächlich war, was sie zu sein vorgab, dann mussten ihm die Götter wohlgesonnen sein. Sie wohnten nicht einmal sechsunddreißig Stunden unter einem Dach, und er war bereit, alle Lektionen zu vergessen, die ihn das Leben gelehrt hatte! Er sollte zurück zu Conner gehen, sich eine Ermahnung in Sachen Frauen holen, und Melina als das sehen, was sie war: eine Notwendigkeit, um an sein Erbe zu gelangen.
Aber das Kribbeln in seinen Händen und Füßen sagte ihm, dass er das Dinner schnell beenden würde. Und dann eine harte Trainingsstunde einlegen. Das war es, was er wirklich brauchte. Und Tee. Jede Menge Tee!
4
Am nächsten Morgen saß David bereits im Speisezimmer, als Melina eintraf. Sie musste sich eingestehen, dass sie nach dem gestrigen Abend fast gewünscht hatte, er würde wieder nicht erscheinen.
»Ich hoffe, Eure Kopfschmerzen haben sich gelegt?« David sprang auf und schob ihr den Stuhl zurecht.
»Ja, danke.« Mit gesenktem Kopf setzte sie sich. Sie wollte so lange wie möglich vermeiden, ihn anzusehen. Die widersprüchlichen Gefühle, die er in ihr auslöste, verwirrten sie. Und so lange sie ihn nicht ansah, war es einfacher, ihn zu verabscheuen.
»Freut mich zu hören! Dann habt Ihr sicher nichts dagegen, mich bei meinem morgendlichen Ausritt zu begleiten?«
Überrascht hob sie den Kopf und blickte ihn doch an. »Wolltet Ihr nicht Eure Minen inspizieren? Ich bin nicht sicher, ob …«
»Oh, nein, das werde ich ein anderes Mal machen. Ich dachte vielmehr daran, Euch den Besitz zu zeigen.«
James’ Eintreffen ersparte ihr eine Antwort. Sie bestellte Eierkuchen mit Obst und Kaffee. David Eier, gebratenen Speck, Toast und ebenfalls Kaffee.
»Habt ihr gestern noch trainiert?«, sprach sie wieder, ohne vorher zu denken.
Seine Brauen hoben sich. »Wie …?«
»Kynma kann Euch nur ein Ukyomeister beigebracht haben. Also ging ich davon aus …« Sie verstummte und warf ihm unter gesenkten Wimpern einen verstohlenen Blick zu. »Entschuldigt, manchmal geht meine Fantasie ein wenig mit mir durch. Ich wollte natürlich nicht …«
»Nein, nein«, unterbrach er sie. »Ihr habt ja recht. Ich habe gestern Abend noch trainiert.« Er fuhr sich durchs Haar und grinste. »Eine schlechte Angewohnheit von mir.«
»Was soll daran schlecht sein? Man sagt, Ukyo hilft, mit sich selbst ins Reine zu kommen und die innere Balance zu wahren. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen.«
»Woher wisst Ihr so viel über Ukyo? Ist es in Fjördur sehr verbreitet?«
James und ein weiterer Sklave brachten das Frühstück und nahmen dann an der Wand Aufstellung.
»Eigentlich nicht«, nahm Melina das Gespräch wieder auf. »Aber ich wollte es als Kind unbedingt lernen.« Sie lachte. »Mein Vater hat einige Ukyokämpfer als Vasallen, und ich habe ihre anmutigen Bewegungen immer bewundert. Es sieht so viel graziler aus als der Schwertkampf. Habt Ihr einmal gesehen, wie ein Ukyomeister einen Schwertmeister besiegt? Ich habe es gesehen und wollte das auch können.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich durfte es nicht lernen.«
»Weil Ihr eine Frau seid?«
»Weil ich keine Uyato bin!«
Wieder hoben sich seine Brauen. »Bin ich auch nicht.«
»Stimmt. Wie habt Ihr Eure Sklaven dazu gebracht, Euch zu unterrichten? Ein wahrer Ukyomeister würde eher sterben, als einen Unwürdigen in seine Geheimnisse einzuweihen.« Erschrocken hielt sich Melina die Hand vor den Mund. Das hätte sie nicht sagen sollen. »Entschuldigung, ich wollte nicht … Bei den Göttern, ich plappere, wenn ich nervös bin und …« Sie schluckte und spürte Hitze ihren Hals hinaufwandern. Vielleicht sollte sie einfach für den Rest des Tages den Mund halten. Oder für immer.
Aber David schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken, sondern runzelte nur die Stirn. »Ylyndar hat mich einfach unterrichtet. Ich hatte nicht darum gebeten. Ich war noch ein Kind und wusste nicht einmal, wie das hieß, was er mir beibrachte.« Er legte den Kopf leicht schief und musterte Melina kritisch. »Vielleicht haben unsere Uyato andere Regeln als die in Eurer Heimat? Schließlich sind sie …« Verlegen lächelnd brach er ab.
»Sklaven!«, vollendete sie den Satz. So viel zu ihrem Vorsatz, nie mehr ein Wort zu sagen.
»Richtig.« Ein wenig unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. »Vielleicht sollten wir über etwas anderes reden? Dinge finden, die wir gemeinsam haben? Eine Basis für eine Ehe?«
»Wie meint Ihr das?« Melina starrte ihn aus großen Augen an.
Er räusperte sich und zerteilte ein Stück Schinken. »Ich denke, es ist hilfreich, wenn sich Ehepartner mit Respekt begegnen. Und respektieren kann man sich nur, wenn man die Beweggründe des anderen versteht. Deshalb möchte ich Euch meine Ländereien zeigen. Wenn Ihr seht, wie hier alles funktioniert und wie die Uyato leben, hilft es Euch dabei, mich besser zu verstehen. Im Gegenzug könntet Ihr mir erklären, wie die Dinge in Fjördur gehandhabt werden.«
»Das klingt vernünftig.« Sie nahm ihren letzten Bissen. »Dann werde ich mich jetzt umkleiden. Dieses Kleid eignet sich nicht zum Reiten.«
»Es ist wunderschön!« David erhob sich und half ihr beim Aufstehen. Dabei berührten seine Lippen fast ihr Ohr. »Ihr solltet immer rot tragen. Dann leuchtet Ihr wie die Kristallfenster in der Abenddämmerung.« Im nächsten Moment trat er von ihr zurück und verbeugte sich. »Dann treffen wir uns in zwanzig Minuten vor der Eingangshalle!«
Es gelang Melina, trotz des Aufruhrs in ihrem Inneren, langsamen Schrittes den Raum zu verlassen. Erst als sie sicher war, dass David sie nicht mehr sehen konnte, begann sie zu rennen.
Völlig außer Atem erreichte sie ihr Zimmer. Frida war gerade dabei, das Bett zu machen, und betrachtete ihren Schützling überrascht. »Was ist denn mit dir passiert? Hast du ein Wettrennen gemacht?«
»Nein.« Sie sah sich im Raum um. »Ist Amalie noch da?«
»Nein, ich habe sie …«
»Sehr gut!« Ein Lächeln huschte über Melinas Gesicht. »Ich brauche mein Reitkleid! David will mir den Landsitz zeigen.«
»Aha. Ich dachte, wir mögen ihn nicht?« Langsam strich Frida die Decke glatt und machte sich dann an Melinas Kleiderschrank zu schaffen. »Das blaue oder das rote Kleid?«
»Blau! Und wir mögen ihn nicht! Aber wir sind freundlich und nehmen sein Angebot an. Er will eine Basis für unsere Ehe schaffen. Und schließlich werden wir hier leben und da sollten wir uns auskennen.«
»Natürlich. Soll ich deine Zofe …?«
»Nein! Ich meine«, Melina biss sich auf die Lippen, »ich glaube, sie mag mich nicht besonders. Könntest du mir heute helfen?«
Seufzend strich Frida Melina übers Haar. »Sehr gern, mein Schätzchen. Aber du wirst dich mit den Menschen hier arrangieren müssen.«
»Das versuche ich ja gerade! Aber die Menschen hier sind so …« Missmutig sank sie auf ihren Frisierstuhl. »Dieser Conner gestern Abend …« Sie schauderte. »Eigentlich hatte ich gedacht, David sei ganz in Ordnung. Er kann sehr aufmerksam sein. Und ab und zu habe ich das Gefühl, dass da eine Verbindung zwischen uns ist.« Gedankenverloren berührte sie ihre Lippen. »Und im nächsten Moment stellt er mich vor seinem Freund als unwissend hin und redet über mich, als wäre ich ein kleines Kind ohne Manieren!« Sie sprang auf. »Conner wollte James, einen der Haussklaven, auspeitschen lassen, nur weil ich ihn angesprochen habe!«
»Und das hat dein Zukünftiger zugelassen?«
»Nein!« Empört schüttelte Melina den Kopf. »Er wollte ihn zur Feldarbeit verbannen. Hat dann aber auf meine Bitte hin eingelenkt. Aber genau das verstehe ich nicht! Er erfüllt mir diesen Wunsch und sieht mich dabei so an, dass mir heiß und kalt wird. Und in seinem nächsten Satz demütigt er mich.« Frustriert ließ sie die Schultern sinken. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meinst du, ich sollte versuchen, David zu gefallen?«
Frida trat zu ihrem Schützling und lächelte milde. »Er gefällt dir schon, oder?«
Ein Laut irgendwo zwischen Zustimmung und Ablehnung kam über Melinas Lippen.
»Du wirst mit ihm leben müssen, Melina. Und nach allem, was du erzählst, ist er bereit, auf deine Gefühle und deine Herkunft Rücksicht zu nehmen. Vielleicht solltest du ihm auch etwas entgegenkommen?«
»Mmm. Dann sollte ich vielleicht doch das rote Kleid tragen? Er hat eben gesagt, dass es ihm gefällt, wenn ich rot trage.« Sie spürte, wie ihre Ohren heiß wurden. »Oder ich trage gerade deswegen blau, um ihm zu zeigen …«
»Unter diesen Umständen nimmst du rot, Melina. Beeil dich!« Dem kritischen Blick auf Melinas Haare folgte ein Schulterzucken. »Deine Frisur wird sich beim Reiten lösen. Aber das können wir nicht ändern. Bleibt zu hoffen, dass ihm das auch gefällt.«
Es dauerte fast fünfzehn Minuten, Melina für den Ausritt herzurichten. Zufrieden betrachtete die Amme ihr Werk. »Perfekt! Und jetzt schnell, Mädchen. Erobere ihn im Sturm.«
Mit wild klopfendem Herzen machte sich Melina auf den Weg in die Eingangshalle.
*
Ein leichter Hauch von Flieder kündigte Melinas Eintreffen an. Für einen Moment schloss David die Augen und nahm den Duft in sich auf. Er fragte sich, wer ihr verraten hatte, dass er Flieder liebte. Er erinnerte ihn immer an Frühling und Neuanfang. In Zadura, mit seinem ganzjährig gleichen Klima, gab es diese Pflanze nicht. Aber sein Vater hatte ein Gewächshaus anlegen lassen, in dem die Jahreszeiten seiner alten Heimat simuliert wurden. Und dort blühten im Frühjahr üppige Fliedersträucher. David runzelte die Stirn. Er sollte sich dringend darum kümmern, dass in dem Gewächshaus alles so weiterlief, wie zu Lebzeiten seines Vaters. Vielleichte könnte er mit Melina später …
In diesem Moment trat sie in sein Blickfeld und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie trug tatsächlich ein rotes Reitkleid!
Natürlich tut sie das, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Du hast es ihr ja praktisch befohlen. Er ignorierte die Stimme, die verdächtig nach Conner klang, trat zu ihr und hauchte einen Kuss auf ihre behandschuhte Hand.
»Ihr seht bezaubernd aus, Melina. Ich hoffe, Euch sagt die Stute zu, die ich ausgesucht habe. Harvest ist ein ruhiges Tier, aber sehr ausdauernd und nicht so groß wie die anderen Pferde.«
»Vielen Dank. Ich bin sicher, dass ich hervorragend mit ihr zurechtkommen werde.« Anmutig neigte sie den Kopf, wobei sich eine Haarsträhne löste und ihr ins Gesicht fiel.
David unterdrückte den Impuls, die Strähne zur Seite zu schieben. »Was möchtet Ihr zuerst sehen?«
»Wäre es möglich, die Unterkünfte der Sklaven zu besuchen?« Eine entzückende Röte breitete sich auf ihren Wangen aus. »Ich habe viel darüber gelesen und gehört, aber ich würde mir gern selbst ein Bild davon machen.«
»Natürlich. Ich zeige Euch alles, was Ihr wollt. Keine Geheimnisse! Allerdings werden wir nicht viele Uyato dort antreffen. Die meisten arbeiten um diese Zeit.«
»Das macht nichts. Ich würde es trotzdem gern sehen.«
Obwohl er sich innerlich gegen Blicke wie diesen gewappnet hatte, berührte die Mischung aus Bitten und Trotz etwas in ihm. »Es ist Euer gutes Recht, Euren zukünftigen Besitz zu sehen«, sagte er eine Spur kühler als beabsichtigt. Kurz sah er das Erstaunen über seine harschen Worte in ihrem Gesicht, dann zuckte sie mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Garten zu.
»Was sind das für Bäume? Sie stehen hier überall. Die kenne ich nicht von zu Hause.«
Pflanzen? Das war immerhin ein Thema, mit dem er sich auskannte. »Ihr meint bestimmt die Sommerweiden. Sie wachsen in ganz Zadura. Man könnte sagen, sie sind das Unkraut des Landes.« Er lachte. »Wahrscheinlich ist das der Grund, warum mein Vorfahren sie kultivieren ließen. Man kann sie zwar roden, aber ihre Wurzeln sind extrem hartnäckig und sie wachsen immer wieder nach. Wenn man ihnen allerdings Raum gibt, um sich zu entfalten, dann belohnen sie uns mit dem wunderschönen Anblick, den Ihr hier vor Euch seht. Im Moment sind sie frisch gestutzt.« Er ging zum nächstgelegenen Baum und nahm einen der nach unten hängenden Äste zwischen die Finger. »Seht Ihr hier? In wenigen Wochen werden diese Knospen blühen. Dann ist der ganze Garten ein einziges Blütenmeer in zarten Rot- und Rosatönen.« Verdammt! Jetzt konnte er es kaum abwarten, ihr das Blütenmeer zu zeigen. Er räusperte sich und deutete auf die Stallungen. »Dort stehen unsere Pferde.«
Die nächste Überraschung erwartete ihn, als sie ihr Reittier sah. Mit leicht schräg gelegtem Kopf musterte sie die Stute und deutete dann auf den Sattel. »Das ist ein Damensattel, oder?«
Er nickte. »Natürlich.«
»Ich kann auf einem Damensattel nicht reiten.« Ein weiteres Mal überzog eine zarte Röte ihre Wangen.
»Aber euer Kleid … ich meine, das ist doch ein Reitkleid, oder?« Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie damit auf einem Herrensattel reiten wollte.
»Nun ja, es ist nach der neusten zadurischen Mode geschnitten, habe ich mir sagen lassen, aber ich ließ es ein wenig ändern.« Ohne zu zögern, schob sie einen Teil des vorderen Rocks zur Seite, griff zwischen ihre Knie und zeigte ihm, was sie meinte.
Das war kein Kleid! Tatsächlich handelte es sich um eine sehr weite Hose. So etwas hatte er noch nie gesehen. »Das sind zwei Röcke?« Er legte den Kopf schief.
»Ja! Der untere ist eine weite Hose, die es mir erlaubt, im Herrensitz zu reiten. Der obere ist ein weiter Rock, der verhindert, dass man meine gespreizten Beine sieht.« Verlegen lächelte sie ihn an. »Fjördurische Frauen sind praktisch veranlagt. Ein Damensattel sieht zwar elegant aus, aber ein sicherer Ritt ist damit unmöglich. Schon gar nicht bei Eis und Schnee. Aus diesem Grund sind unsere Kleider so geschnitten, dass dem Anstand genüge getan wird, wir aber trotzdem alle Vorteile eines herkömmlichen Sattels nutzen können.«
»Was für eine faszinierende Vorstellung. Kylar!«, bellte er in Richtung Stallungen. »Bitte einen Herrensattel für Ihre Gnaden!«
Sofort trat ein kleiner Uyato aus dem Stall, den gewünschten Sattel auf der Schulter. »Sehr wohl Euer Gnaden«, sagte er und machte sich an die Arbeit.
»Nun, das wird einen Augenblick dauern.« David bot Melina seinen Arm. »Möchtet Ihr so lange die anderen Pferde sehen?«
»Können wir draußen warten? Ich fühle mich im Inneren von Ställen nicht sonderlich wohl.«
Verdutzt hielt er inne. »Aus welchem Grund? Reitet Ihr nicht gern?«
»Doch, doch. Es ist nur«, verlegen strich sie ihr Kleid glatt, »ich kann den Geruch von Ställen nicht ertragen. Ich weiß auch nicht warum, aber mir wird davon richtiggehend übel.«
Warum erzählte sie ihm das? Wollte sie sein Mitleid? Spielte sie doch mit ihm? Er wurde aus ihr einfach nicht schlau! Weil du immer noch auf deine Gefühle vertraust! Sie wird mit allen Mitteln versuchen, dich für sich einzunehmen. Dich necken, dich reizen, an deinen Edelmut und deine niederen Instinkte appellieren! Du hast das alles schon einmal durchgemacht, David. Aber diesmal weißt du es besser! Auch das waren Conners Worte. Worte, die er sich hatte zu Herzen nehmen wollen – bevor er Melina begegnet war.
Als er gestern Abend das Speisezimmer wieder betreten hatte, hatte Conner ihn mitleidig angesehen. »Du bist kurz davor, ihr die Unschuldsmasche abzukaufen, oder?«
»Und wenn?«, hatte er trotzig geantwortet.
»Dann bist du ein noch größerer Narr, als ich dachte!« Krachend war Conners Glas auf den Tisch geknallt. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, wie es mit Hester war? Was sie getan hat? Was du alles getan hast?«
»Melina ist nicht wie sie.«
»Ah, und das weißt du, weil du so eine gute Menschenkenntnis hast? Ohne meine Hilfe hättest du Hester nie durchschaut!«
David hatte die Augen zusammengekniffen. »Melina hat nicht im Geringsten auf dich reagiert! Ich glaube nicht einmal, dass sie dich mag.«
»Und das ist dein Beweis?« Conner hatte gelacht. »Wenn nicht ich es bin, dann ist es ein anderer. David, sie wird dir das Herz herausreißen und darauf herumtrampeln, wenn du es zulässt! Dann komm aber bitte nicht zu mir, um dich auszuheulen! Ich kitte nicht noch einmal, was du dir durch deine närrische Vorstellung von Liebe und Romantik selbst angetan hast.«
Mit diesen Worten war er aus dem Raum gestürmt. Und David hatte sich zu Ylyndars Hütte begeben. Doch diesmal hatte nicht einmal das Training oder der Tee seine aufgewühlten Nerven zur Ruhe bringen können.
Melina hatte ihn schon zu lange an der Nase herumgeführt, mit ihrer gespielten Unschuld, ihrem Augenaufschlag und diesem Mund, den er nur zu gern noch einmal küssen würde. Er hatte sie testen wollen. Ihr gesagt, sie solle Rot tragen und sie hatte es getan. Dann dieses ›Kleid‹ und der Wunsch nach einem anderen Sattel. Sie reizte ihn absichtlich. Seine Lenden begannen bei dem Gedanken zu schmerzen, dass er sie den ganzen Tag in dieser Stellung im Sattel sehen würde. Und sich vorzustellen, dass er es wäre, den sie ritt. Stöhnend legte er die Hand auf die Augen und drehte sich von ihr weg. Der Tag würde die Hölle werden!